Prompt 113: Drachen steigen lassen
Heute war der Wind endlich stark genug. Beinahe den ganzen Herbst hatte Maria gewartet, doch all die Geduld hatte sich gelohnt. Es war ein perfekter Tag, die alten Erinnerungen wieder aufleben zu lassen, die sonst nur körperlos umherwaberten. So schnappte sich die junge Frau ihren Drachen, der seit dem ersten Herbsttag neben der Tür auf seinen Einsatz wartete, und stürmte hinaus. Jeder Schritt machte Maria mehr zum Kind und plötzlichen war der Kummer vergessen und die Welt schien nicht mehr so grau wie zuvor.
Auf dem Hügel hinter dem Haus ließ Maria den Drachen in den Himmel hinaufsteigen. Der Wind ließ sie frösteln und zerrte an ihr, doch das alles nahm sie kaum wahr. Alles, woran die Blonde denken konnte, war, dass das Drachen steigen so ganz allein nicht dasselbe war wie damals, als Marias Vater noch da war. Durch die Zeit, die Vater und Tochter damals gemeinsam an diesem Ort verbracht hatten, wurde der Herbst erst lebendig.
Doch diese Zeit war vorbei. Alles, was nach dem Tod des Vaters blieb, war die Erinnerung, die heute hinauf in den Himmel getragen wurde.
Maria fragte sich, ob man überhaupt vom Himmel auf durch die Wolken sehen konnte. Doch schon im nächsten Moment kam ihr dieser Gedanke so unwichtig vor. Es zählte nur, dass die junge Frau hier war und ihren Erinnerungen nachhängen konnte. Ihr wurde erst jetzt bewusst, wie sehr sie ihren Vater vermisste. Dass er nie wieder an Marias Seite sein würde, schmerzte. Daran tat vor allem die Tatsache weh, dass man es nicht würde rückgängig machen können. Egal, was man versuchte.
Eine Weile stand die Blonde da und beobachtete den kleinen roten Drachen, wie er sich im Wind wiegte und tanzte, als wäre keine Zeit vergangen. Die Unbeschwertheit dieses alten Spielzeugs entlockte Maria sogar ein kleines Lächeln. Es war das erste seit Monaten, die noch lange vor dem Herbsteinzug trist und grau gewesen waren.
Dann riss die Schnur, die über die Jahre hinweg brüchig geworden war. Hilflos sah die junge Frau zu, wie eine neue Windböe den Drachen erfasste und immer weiter gen Himmel trug. Maria konnte nicht das Geringste tun. Das wusste sie sofort, weshalb sie nur dastand und der Erinnerungen beim Verschwinden zusah.
Die junge Frau hatte das Gefühl, dass das ein gutes Zeichen war. Sie sollte traurig sein, dass nun der alte Drachen weg war. Er war das Letzte, was ihr von ihrem Vater geblieben war. Und dennoch lächelte Maria weiterhin, als hätte die Herbstkälte es ihr ins Gesicht gemeißelt.
Die junge Frau wollte daran glauben, dass das Reißen der Schnur bedeuten sollte, dass sie den Kummer endlich vergessen sollte. Es war ungesund, tote Erinnerungen widerbeleben zu wollen. So ersparte man sich den Schmerz, der die Wunde offen hielt und die Heilung unterbrach, die eigentlich dazu diente, über den Verlust hinwegzukommen. Von heute an wollte Maria versuchen, loszulassen. So schwierig es auch werden würde. Weil ihr Vater es so wollen würde.