Prompt 131: Sakrament
»Werte Gemeinde« begann der Maskierte auf dem Podium mit seiner üblichen feierlichen und fast schon einlullenden Stimme, wann immer er etwas zu verkünden hatte. »Eine neue, erwachte Seele hat ihren Weg in unsere Mitte gefunden. Heißen wir sie mit aller Herzlichkeit und Güte willkommen.«
Sumi hatte das Gefühl, dass der Kloß im Hals, der sich bei Eintritt in diese finstere Halle gebildet hatte, ihr allmählich die Luft zum Atmen entriss. Kerzenlicht war alles, was die absolute Dunkelheit davon abhielt, in diesem unendlichen Raum Einzug zu halten. Dementsprechend waren die dunkelgekleideten Leute, die sich in einem Kreis um den Neuzugang drängten, auch kaum zu erkennen, aber dennoch überdeutlich da. Stoff raschelte, jemand hustete verhalten. Schweigen in einer Menschenmenge war eben nie ganz ruhig.
Eigentlich hatte Sumi sich das Alles genauso vorgestellt. Das typische Sektenklischee eben. Und genau deswegen war die Frau erst hergekommen: Als Reporterin, die eine heiße Story witterte. Ein anonymes Schreiben hatte Sumi auf die Sekte der Ewigen Wiedergeburt, wie sich diser komische Haufen nannte, aufmerksam gemacht. Wer da nicht zuschlug, war einfach kein guter Journalist. Also hatte die Frau Anfang vierzig, deren letzte Titelblattgeschichte schon ein ganzes Leben her zu sein schien, sofort mit dem Redakteur gesprochen und mit der Recherche begonnen. Die jedoch vollkommen im Sande verlaufen war. Es gab nichts über diese ominöse Sekte. Zumindest nichts, was sich außerhalb deren Reihen finden ließ. Also hatte es für Sumi nur einen logischen Schluss gegeben. Sie musste selbst in diese Untergrundgemeinde eintauchen und alles an Informationen bergen, was sie gefahrlos heranschaffen konnte.
Als der Kreis plötzlich enger wurde und dann jemand Sumis Hand ergriff, konnte sie gar nicht anders, als scharf einzuatmen und zusammenzuzucken. Die Reporterin hätte erwartet, dass es so etwas wie eine Befragung geben würde. Um zu testen, ob der Neuzugang überhaupt einer Aufnahme würdig war. Immerhin hatte die Dunkelhaarige nur am Eingang eine erschlichene Parole gemurmelt und gesagt, dass sie Mitglied werden wolle.
Statt sich jedoch vor irgendwem rechtfertigen zu müssen, wurde Sumi nun von der Menge von dem schwach erleuchteten Podest weggeführt und fand sich bald schon in der gefürchteten Finsternis wieder. Der rationale Teil des menschlichen Hirns sagte sich, dass das der Anfang des Einführungsritus sein musste. Der andere, emotionalere, Teil schrie hingegen vor Panik und wollte am liebsten weglaufen. Was, wenn man Sumi angemerkt hatte, dass sie keine echte Gläubige war? Himmel, sie wusste ja nicht einmal, was hier angebetet wurde. Genau diesen Kernpunkt hatte der kurze Brief ohne Absender sehr vage gehalten. Die Tarnung war sicher aufgeflogen. Jetzt war es aus. Die Katze war im Sack und würde nun für ihre Neugier bestraft werden.
Dementsprechend sprach Sumi bereits ihre letzten Gebete, als ihr jemand die Kleider vom Leib riss und jemand anderes sie mit kalten Wasser übergoss. Erst, als eine dritte Person begann, Seife auf die nackte Haut aufzutragen, legte sich die Angst ein wenig. Die Logik hatte wieder einmal gesiegt – das hier war Teil der Mitgliedswerdung. Nichts weiter.
Sich nach und nach beruhigend ließ Sumi das Waschen und mit verschiedensten Ölen Eingereibe über sich ergehen. Danach konnte sie erneut spüren, wie sich der Kreis enger um sie zog.
»Neue Seele, nun bist du rein. Erweise dich uns als würdig.«
Diese Worte kamen aus mindestens fünfzig Mündern und doch gab es keine einzige Erzögerung. Als wäre die Menge im Geiste miteinander verbunden und in absolutem Einklang.
Mit diesem melodischen Singsang im Ohr wurde Sumi nun weiter durch die Dunkelheit geführt. Noch immer hatte sie kein einziges Kleidungsstück am Leib. Umso beschämter war die Reporterin, als die Menge sich einfach auflöste und Sumi in einem Raum voller Kerzenschein allein mit dem Maskierten war, der der Anführer dieser Sekte zu sein schien.
»Hab keine Angst, kleine Seele«, begann der Mann und nahm seinem Gegenüber mit seiner beruhigenden Stimme den Rest der Anspannung. Es klang sogar durch die Maske fast so, als würde der unheilige Prophet lächeln. »Damit du ein Teil der Gemeinde werden kannst, musst du erst sehen, was auch deine Brüder und Schwestern bereits gesehen haben. Es wird schmerzlos sein, keine Sorge.«
Der Mann näherte sich Sumi bedächtig und schien aus dem Nichts heraus ein kleines Tintenfass und einen Pinsel hervorzuzaubern. Flink zeichnete er in diesem Dämmerlicht grazile und komplizierte Symbole auf Sumis Haut und murmelte dabei in einer Sprache, die nicht menschengemacht zu sein schien. Die Worte verschwammen zu einem schläfrig machenden Sirenengesang. So war es kaum verwunderlich, dass Sumi kaum noch geistig anwesend war, als der Sektenführer die Körperkunst vollendet hatte.
»Komm, ich werde dir den Weg zeigen, an dessen Ende du dir selbst begegnen wirst. Oder eher dem unsterblichen Teil von dir, der den meisten Menschen für immer verborgen bleibt. Heute wirst du den Gott kennenlernen, der in einem jeden haust und darauf wartet, von seinen Fesseln befreit zu werden. Doch er ist nicht dein Schöpfer, sondern an deine Seele gebunden und in seiner Natur genauf mannigfaltig wie die Menschheit. Nur durch ewige Wiedergeburt kann er erweckt werden. Das ist unser oberstes Ziel, seit ich die Verbindung zu meinem eigenen Gott das erste Mal pürte und diese Zuflucht gründete, um dieses Wissen mit der Menschheit zu teilen. Aber sieh selbst. Er wird sich dir offenbaren.«
Wie in Trance folgte Sumi dem Maskierten und fand sich im nächsten Moment in einem Sarg nahe der Hölle wieder. Zumindest kam es der Reporterin so vor, so eng, dunkel und von glühender Hitze durchsetzt wie ihre Umgebung war. Es dauerte nicht lange, bis Sumi keine Luft mehr bekam. Danach hatte sie das Gefühl, lichterloh zu brennen. Die Dunkelheit war überall und es gab Entkommen. Keinen Finger konnte die Frau rühren, geschweige denn vor der Hölle weglaufen. Das hier war das Ende. Sumi würde sterben und sie fand einen seltsam erleichternden Frieden in diesem Gedanken.
Daraufhin sah sie sich selbst vor sich. Als würde die Dunkelhaarige in einen Spiegel blicken stand da ein Wesen vor ihr, dass ihr ähnlich und doch gleichzeitig fremd war. Es lächelte und streckte eine Hand nach Sumi aus. Sofort hörten die Flammen auf zu lodern. Die Schmerzen erloschen und die Frau fühlte sich, als würde sie den ersten Atemzug in ihrem Leben nehmen. Das musste der Gott sein, der mit Sumi verbunden war. Er hatte sie vor den Todesqualen gerettet und wieder auferstehen lassen.
»Lass mich dir dein wahres Potenzial zeigen«, flüsterte das Spiegelbild mit einer engelsgleichen Stimme, die keine Worte brauchte, sondern nur diese wundervolle Melodie, um Sumi die Verbundenheit spüren zu lassen.
Viel zu schnell verschwand die göttliche Erscheinung wieder und die Dunkelhaarige fand sich wieder im Kreis der Menge. Der Sektenführer stand starr vor ihr.
»Hast du sein Licht gesehen?«, fragte er.
Sumi lächelte im Kerzenschein, wie es zuvor die innere Göttin getan hatte. »Ja, das habe ich. Und ich will mich dem hingeben und gleichzeitig befreit und verbunden werden.«
Der Maskierte nickte zufrieden und Sumi wurde von so vielen Brüdern und Schwestern gleichzeitig in eine warme, fast schon zärtliche Umarmung geschlossen. Hier war Sumis Platz. Hier würde sie wieder und wieder auf ihren Gott treffen und sich von ihm erleuchten lassen. Bis er befreit wäre und sie unsterblich machen würde.
Mit den Schmerzen in dem dunklen Grab, oder vielleicht schon vorher bei der rituellen Reinigung, hatte Sumi alles abgelegt, was sie erst hierhergeführt hatte. Der anonyme Brief, die Gier nach einer Jahrtausendgeschichte, der Wahn, sie könnte mit solcher die Karriereleiter hinaufsteigen und von allen bewundert werden. Das alles war längst vergessen. Was zählte, war die Befreiung eines Gottes und die Einheit mit der Gemeinde, die dem Neuzugang dabei helfen würde, dieses Ziel zu erreichen.
Jemand warf Sumi eine der dunklen Kutten über, die das Gesicht verbargen und einen allein mit seinem inneren Gott sein ließen. Es dauerte daraufhin nur wenige Minuten, bis Sumi als Teil der Masse in dieser versank und im Gleichschritt mit dieser dem namenlosen Anführer folgte, der ihr den Weg zu einer neuen Wiedergeburt weisen würde.