Prompt 133: Verletzter Stolz
Begann Tim zu sprechen, verdrehten alle Zuhörer nur die Augen. Nicht, weil er dafür bekannt war, Unsinn zu reden oder weil er ein und dieselbe Geschichte bei jeder passenden Gelegenheit zum Besten gab. Stattdessen war der Grund für die allgemeine Genervtheit, dass alles, was Tim sagte, sich darum drehte, wie perfekt doch sein Leben wäre.
So auch heute. Liana, die erst kürlich die Abteilung gewechselt hatte und sich noch in den neuen Kollekgenkreis einfügen musste, hielt sich zusammen mit einigen anderen in dem kleinen Pausenraum des Gebäudeabschnitts auf, als Tim hereinschneite und sofort begann, seine Untergebenen in ein Gespräch zu verwickeln. Und die Angesprochenen antworteten brav - immerhin wollten sie den Abteilungsleiter nicht verärgern. Tony, die neben Liana saß, begann nun extra lange an ihrem Kaffee zu schlürfen, sobald Tim auch nur Anstalten machte, sich in ihre Richtung zu bewegen. Jedoch hatte dieser in Stephen, der insgesamt manchmal etwa zu gesprächig war, bereits sein Opfer für ein bisschen Prahlerei gefunden. Stephen hatte noch gar nicht nach dem Ergehen seines Chefs gefragt, da fing dieser auch schon an zu erzählen.
»Mir geht es blendend wie immer, danke der Nachfrage. Gestern erst habe ich mich mit einem alten Freund, dem ein Bauunternehmen gehört, getroffen und beraten, wie seine Leute mein Haus bauen sollen. Meine Eltern liegen mir schon so lange in den Ohren, dass ich endlich aus meinem Loft ausziehen soll und meiner Familie ein anständiges Heim bieten soll. Aber wer kann es ihnen schon verübeln? Sie fürchten vermutlich immer noch, dass meine Frau mich nur meines Geldes wegen geheiratet hat und davon läuft, wenn ich ihr nicht einen gewissen Lebensstandard biete.«
Jedes Wort war typisch für Tim - überheblich und protzend, nur um sich über jeden anderen im Raum zu erheben. Liana hörte einfach nur zu und versuchte zu verstehen, was ein Mensch davon haben könnte, sich vor Untergebenen aufzuspielen. Wo lag der Sinn darin, Leuten überdeutlich mitzuteilen, dass Tim Edward Mullen sich für etwas viel Besseres als den Rest der Menschheit hielt?
Liana war jemand, der meist einfach am Rand saß, zuhörte und abspeicherte, was sich an Informationen sammeln ließ. So wusste die junge Frau bereits, dass Tim reiche Eltern hatte, die ihm das Jurastudium bezahlt hatten, das er widerum als Jahrgangsbester abgeschlossen hatte. Daraufhin hatte er seine eigene Kanzlei aufgebaut, die daraufhin von einem Großkonzern aufgekauft und als firmeninterne Rechtsabteilung eingesetzt wurde. Außerdem hatte Liana schon Bilder von Tims Frau und Kindern gesehen, die alle bildhübsch waren. Ständig erzählte der stolze Vater, dass sein ältester Sohn bald in seine Fußstapfen treten würde, während der Jüngere sein Medizinstudium gerade erst angefangen hatte und die Tochter nach Europa gegangen war, um dort wegen ihres musikalischen Talents zur erstklassigen Violistin und Sängerin ausgebildet zu werden. Es war ein Bilderbuchleben, das dieser Mann führte. Doch irgendetwas daran war für Liana zu perfekt. Und auch wenn sie sich an sich wenig für Tim Mullen als Person interessierte, würde sie gern herausfinden, warum dieser Mann es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, allen anderen Minderwertigkeitskomplexe einzureden.
»Ja ja, man weiß nie«, stimmte Stephen unterdessen zu. »Wie geht es ihrer Familie denn eigentlich? Ist schon eine Weile her, dass ich ihre Frau oder Söhne hier in der Kanzlei gesehen habe.«
Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, aber Liana meinte zu sehen, wie Tims Fassade für einen Moment zu bröckeln begann. Dann war jedoch alles wieder beim Alten, auch wenn die Anwort ungewöhnlich für diesen Mann war, der sonst jede Gelegenheit nutzte, um anzugeben.
»Joslyn und die Jungs sind gerade in der Schweiz, um Bella zu besuchen. Für eine Mutter ist es einfach schwer, ihr Kind so lange nicht sehen zu können, deswegen sind sie jetzt in den Bergen und fahren Ski, nehme ich an. Ihr Netz dort soll sehr schlecht sein, deswegen weiß ich nichts Genaueres. Und wegen der Arbeit konnte ich leider nicht mit, aber Sie wissen ja selbst, wie wichtig der anstehende Prozess ist. Na ja, da kann man nichts machen.«
Die Worte sprudelten nur so als Tim heraus und jedes Einzelne klang falsch und so, als hätte er sie sich spontan überlegen müssen. Es war eine schleche Lüge, aber niemand im Raum schien darauf zu reagieren.
Seltsam hastig entschuldigte sich der Abteilungsleiter schließlich, nahm seinen Kaffee und eilte aus dem Pausenraum zurück in sein Büro.
»Das hättest du ihn nicht fragen sollen, jetzt wird der den ganzen Tag schmollen«, scholt Marcus Stephen. Auf dessen Frage hin, was er denn Falsches gesagt hätte, begann der Dienstälteste im Raum zu erzählen. »Vermutlich habt ihr es noch nicht gehört, aber der Mullen wurde vor kurzem von seiner Frau verlassen. Keine Ahnung warum und geht mich auch nichts an, aber es gibt Gerüchte, dass sie sich schon an einen anderen reichen Sack rangewanzt hat. Deswegen ist sie ein rotes Tuch für ihn. Wird wohl eine wirklich hässliche Scheidung werden.«
Schneller als gedacht, war Liana auf die Lösung des Rätsels gestoßen. Und noch im selben Moment bemitleidete sie ihren Vorgesetzten, der immer noch prahlte, als würde er einfach nicht die Realität akzeptieren wollen.
Damit fasste der Neuzugang einen Entschluss. Wie Tim zuvor stand die junge Frau auf, wusch ihre benutzte Tasse ab und verließ den Pausenraum. Liana hatte ein etwas mulmiges Gefühl, als sie an Mullens Bürotür klopfte und diese auf das Zeichen hin einen Spalt breit öffnete. »Es tut mir leid für die Störung, aber ich wollte Sie nur wissen lassen, dass ich für Sie da bin, wenn Sie jemanden brauchen, der Ihnen zuhört. Das brauchen wir alle mal, wenn wir eine schwere Zeit durchmachen.«
Ohne die Antwort abzuwarten, schloss Liana die Tür wieder und machte sich wieder an die Arbeit. Die junge Frau wusste, dass sie das Richtige getan hatte. Vor allem dann, als sie nicht einmal zehn Minuten später übers Telefon anstatt wie üblich von einer der Sekretärinnen von Tim persönlich in sein Büro gebeten wurde.