Prompt 128: Zwietracht
Es war, als wären Emily und Kiara schon als Freunde auf die Welt gekommen. Seit diesem einen Tag im Kindergarten, wo sich die beiden Mädchen das erste Mal begegneten, hat die Freundschaft auf den ersten Blick die Jahre überdauert. War eine mal außer Reichweite, fiel die andere so lange in ein Stimmungstief, bis die andere Hälfte wieder an ihrer Seite war. Von außen betrachtet hätte man die jungen Frauen vielleicht sogar für ein Liebespaar halten können – nur Emily und Kiara wussten es besser. Es brauchte keine Romantik oder gar Erotik, um sich einander bedingungslos verbunden zu fühlen und jeden noch so belanglosen Moment des Lebens mit dem jeweils anderen teilen zu wollen.
Erst als echte Romantik ihren Auftritt hatte, sollte diese innige Freundschaft auf eine harte Probe gestellt werden.
Alles begann damit, dass Emily einen neuen Job annahm, um ihr Publizistikstudium zu finanzieren. Die Arbeit, die in einem kleinen Laden für Elekronik und deren Reperaturen stattfand, wäre an sich belanglos gewesen, wäre da nicht eine gewisse Person gewesen, die Emilys ganze Welt ins Wanken gebracht hätte. Thomas war ebenfalls nur eine Aushilfe gewesen und hatte stets seine Schicht begonnen, wenn Emily sich zum Gehen wandte, doch diese wenigen Momente, die sie ihn einfach nur sah, hatten gereicht, um ihn in ihr Herz zu schließen. Es hatte mit einem ganz leisen Gefühl begonnen, dass Emily gern mehr mit dem hübschen Rothaarigen reden würde, und hatte sich mit jedem neuen Aufeinandertreffen gesteigert, bis hin zu einer regelrechten Atemnot, wenn der Schichtwechsel näherrückte.
Emily behielt das alles für sich. Es war ihr peinlich so sehr für einen Typen zu schwärmen, mit dem sie kaum ein Wort gewechselt hatte.
Umso schlimmer war es für die junge Frau, als Kiara ihr Thomas bald darauf als ihren neuen Freund vorstellte. Sie hatten sich über eine Dating-App kennengelernt. Was für eine schnöde Geschichte gegen Emilys heimliches Schmachten. Doch sie mimte die Ahnungslose und tat, als würde sie sich für das frischverliebte Paar freuen. Währenddessen rumorten in Emilys Inneren die ersten Zweifel an der Freundschaft, die schon so lange Teil ihres Lebens gewesen war.
Je öfter Thomas in Kiaras und Emilys Wohnung abhing, desto mehr schien er auch gegenüber letzterer aufzutauen. Was es für die junge Frau nur noch schwerer machte, ihre eigenen Gefühle zur Seite zu schieben. Es war eine Qual, Kiara mit dem Mann schmusen und Zärtlichkeiten austauschen zu sehen, dessen Aufmerksamkeit Emily mehr als alles andere auf der Welt wollte. Immer öfter dachte sie, dass Kiara nur mit Thomas zusammenwar, um ihrer Freundin eins auszuwischen. Je mehr dieser Gedanke Wurzeln schlug, desto verbitterter wurde Emily. Sie wollte eine gute Freundin sein und sich freuen, dass Kiara glücklich war. Doch gleichzeitig fühlte Emily sich betrogen. Warum nur musste es gerade ihre beste Freundin sein, die ihr den Traumtypen vor der Nase wegschnappte? Es wäre so viel leichter irgendeine Fremde dafür zu hassen als die Person, mit der man beinahe sein gesamtes Leben verbracht hatte.
Irgendwann bildete sich Emily ein, dass Thomas ihr immer wieder schöne Augen machte. Egal ob auf der Arbeit, wo er mittlerweile begann, früher als nötig zu kommen und extra nett zu seiner Kollegin zu sein, oder sogar in Kiaras Anwesenheit, auch wenn diese scheinbar nichts davon bemerkte. Endlich konnte Emily aufhören, verbittert zu sein. Wenn Thomas doch nur endlich das Interesse an ihrer Freundin verlieren und sich ihr zuwenden würde, wäre das Leben perfekt. Dass der Angebetete generell gelangweilt zu sein schien und bei jeder Gelegenheit auch fremden Frauen hinterherschaute, wollte Emily dabei nicht sehen. Endlich war das, was sie schon so lange wollte, zum Greifen nah.
So wurde Emily auch immer unvorsichtiger. Hatte sie zuvor ihre Schwärmereien meisterhaft verborgen, kümmerte sie sich nun kaum noch darum, diese Fassade aufrechtzuerhalten. Und als Kiara fragte, wer denn der Glückliche wäre, rutschte Emily die Wahrheit heraus. So befreiend die Offenbarung auch war, der Streit, den sie nach sich zog, war verheerend. Unglaube traf auf Frustration und schließlich gingen die beiden jungen Frauen mit dem Gefühl auseinander, die wichtigste Person in ihrem bisherigen Leben verloren zu haben.
Am Anfang war es schwer, ohne einander auszukommen. Eisige Kälte herrschte, bis Kiara sich entschloss, zu Thomas zu ziehen, um die Vergangenheit abzuschütteln. Für beide war es surreal, dass eine so lange Freundschaft wegen eines Mannes geendet hatte. Doch das Leben ging weiter. Zunächst schleppend, dann immer schneller und zu einer neuen Routine übergehend, als hätte es die alte Freundschaft niemals gegeben.
Erst ein plötzlicher Telefonanruf brach die Funkstille.
»Er hat mich betrogen«, schniefte Kiara.
Als Emily das hörte, war es, als hätte es den Bruch niemals gegeben. Sie ließ alles stehen und liegen, um ihrer Freundin beizustehen. Thomas und die Gefühle für ihn waren längst eine ferne Erinnerung und Emily kam sich wie ein Idiot vor, dass diese dafür gesorgt hatten, dass sie beinahe Jahre der Freundschaft einfach weggeworfen hätte.
Von da an war es nie mehr wie früher, doch beide Freundinnen wussten nun, was sie aneinander hatten. Die Zwietracht hatte ein Ende und Emily und Kiara hatten ihre Lektion gelernt. Kein Mann ist es wert, die Person aufzugeben, auf die es wirklich ankommt. Vor allem dann nicht, wenn sie selbst dann noch da ist, wenn man sie längst verloren geglaubt hat.