Prompt 142: Eisprinz/prinzessin
Rémi war nichts ohne seinen Sport. Egal, was er tat, alles in seinem Lebe drehte sich einzig und allein um den Eiskunstlauf. Vom ersten Tag an, dass der damals Achtjährige sich dafür entschied zu trainieren, bis er den Titel als bester Eiskunstläufer der Welt erreicht hätte, hatte Rémi nur noch dieses hochgestochene Ziel vor Augen.
In der Schule beispielsweise konnte der Junge es kaum erwarten, wieder zum Training zu kommen. Unterricht, egal ob nun prüfungsrelevant oder nicht, wurde leichtfertig ausgelassen, um für anstehende Wettkämpfe zu trainieren und anschließend über die Freude eines von zahllosen Siegen den rapiden Abfall der Noten und die mahnenden Worte der Lehrer hintenanzustellen.
So sehr wie sich Rémi über den Eiskunstlauf und seine Erfolge auf diesem Gebiet definierte, hatten auch Außenstehende kaum eine andere Wahl als auch nur den Sportler in dem Jungen zu sehen. Seine Eltern hatten schon lange aufgehört, ihr einziges Kind dazu anzuhalten, die Schule nicht zu vernachlässigen, da dieses eh nur seinem eigenen Willen folgte. Und je mehr Preise Rémi nach Hause brachte, desto überzeugter waren die Eltern, dass die Trainingszeit sinnvoll genutzt und der große Traum vom Weltruhm nicht ganz so unerreichbar war, wie es im ersten Augenblick schien. So war es weder Vater noch Mutter eine Last, hin und wieder neue Wettkampfoutfits oder Schlittschuhe zu bezahlen und den Sprössling bei jeder Gelegenheit zu den immer weiter wegrückenden Veranstaltungsorten zu begleiten, um die Erfolgsmomente gemeinsam erleben zu können.
Auch Rémis langjähriger Trainer, Monsieur Fresnel, hatte den seinen talentiertesten Schützling wegen seines Ehrgeizes nicht nur fest ins Herz geschlossen, sondern betrachtete den Jungen regelrecht als seinen eigenen Sohn, den er nie gehabt hatte. Diese Gefühle ließ er, sehr zum Verdruss aller anderer Mitglieder der zehnköpfigen Mannschaft gemischten Geschlechts, raushängen, nur um seine Nummer Eins auch außerhalb von Wettkämpfen auf ein Podest zu stellen.
»Schaut euch nur Rémi an«, prahlte Fresnel, als wäre der verbissene Erfolg allein sein Verdienst, »Wenn ihr alle nur halb so hart trainieren würdet, würden wir in nur zwei Jahren zu den Olympischen Spielen fahren können.«
Worte wie diese, die gleichzeitig Lobpreisungen für den Einzelnen und Standpauken für die Mehrheit des Teams waren, entfachten keinen Ehrgeiz, wie sie es eigentlich sollten. Ganz im Gegenteil – alles, was Fresnels Verhalten bewirkte, war, dass Rémi mehr und mehr zu einem Einzelkämpfer wurde. Er war eine Hassfigur und ein guter Grund für die anderen Teammitglieder, sich aus Neid und Missgunst gegen den übermächtigen Konkurrenten zu verbünden und diesen kategorisch bei allem auszuschließen, was auch nur die geringste soziale Interaktion bedurfte. So blieben Rémi gleichgesinnte Freunde verwehrt. Wobei seine durch Monsieur Fresnel und seine Eltern herangezüchtete Überheblichkeit und Verschlossenheit auch nicht gerade dazu beitrug, dass der Junge allgemein gut darin wurde, Freundschaften zu schließen.
Aus all dieser offenen Feindseligkeit im Team und generellem Desinteresse unter anderen Gleichaltrigen machte sich Rémi nicht allzu viel. Der Eiskunstlauf war mehr als genug, um sein Leben zu füllen. Deshalb hielt der Junge Dinge wie Freunde für reine Zeitverschwendung. Sie würden ihm doch nur kostbare Zeit stehlen, die er in wertvolles Training investieren könnte.
So lief jeder Tag für Rémi gleich ab – so lange zumindest, bis ein herber Schicksalsschlag diese eintönige Routine von einem Moment auf den andere zunichtemachte.
Heute ist unklar, was damals im Detail geschah, und es lässt sich auch nur mehr genau sagen, wer für das Folgende verantwortlich ist. Das Training hatte begonnen wie gewohnt. Küren wurden zunächst vom Trainer erklärt, anschließend von Rémi, der all dies schon im Schlaf beherrschte, mit üblicher Bravour demonstriert, ehe der Rest sich selbst an den Figuren versuchte. So ging es etwa eine Stunde, bis die Jugendlichen sich eine kurze Pause gönnen duften. Erst danach wendete sich das Blatt für Rémi.
Denn schon beim erneuten Anziehen der Schlittschuhe hatte er das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Jedoch ignorierte der Junge diese Eingebung und wartete auf das nächste Zeichen des Trainers, dass er erneut als Vorbild für alle anderen glänzen sollte. Doch als dieses kam, dauerte es nicht lange, bis Rémi das erste Mal seit langem stolperte. Nicht nur das – kurz danach fand der verdutzte Junge sich auf allen Vieren wieder. Er war gefallen. Bei einer Figur, die Rémi sicher schon tausend Mal ausgeführt hatte. Dass so etwas Einfaches nicht auf Anhieb funktionierte, war nichts Neues aber dennoch eine Seltenheit. Umso beschämter war Rémi, als er sich wieder aufrichtete und zu einem zweiten Versuch ansetzte. Der Frust, vor den Augen aller kläglich versagt zu haben, rückte wieder in den Hintergrund und machte absoluter Konzentration auf das, was vor dem Jungen lag, Platz. Immerhin stand ein neuer Wettkampf in weniger als einem Monat bevor, bei dem Rémi wieder die Hauptrolle einnehmen sollte. Diesen Platz würde er sich sicher nicht durch einen dummen Fehler kaputtmachen lassen.
Doch all diese Entschlossenheit hielt nur so lange an, bis der Junge wieder auf dem Hosenboden landete. Ohne recht zu begreifen, was da gerade vor sich ging und das verhaltene Kichern und hämische Grinsen aus den Reihen der Teammitglieder vor lauter Frust nicht sehend, versuchte Rémi wieder und wieder, die begonnene Kür zu Ende zu führen. Es war eine Reihe ständigen Versagens und wieder Aufstehens, bis das warnende Ächzen zu einem Knacken wurde und der Dunkelhaarige beim fünften Fall liegen blieb.
Es wurde der Krankenwagen gerufen und ein Arzt stellte nüchtern fest, dass der Junge sich das Bein gebrochen hatte. Mit der anschließend verordneten Ruhe und dem sechswöchigen Sportverbot rückte nicht nur der anstehende Wettbewerb, sondern auch Rémis gesamtes bisheriges Leben in unerreichbare Ferne. Alles brach von einem Moment auf den anderen in sich zusammen und der Junge brauchte eine Weile, um seine derzeitige Lage zu akzeptieren. Darauf folgten einige Tage des puren Selbsthasses, der ätzenden Vorwürfe gegen Gott und die Welt und der endlosen Langeweile.
Heute könnte der damals so ignorante Eisprinz nicht dankbarer für den Beinbruch sein. Denn auch wenn dieser etliche Schmerzen, schlaflose Nächte und frustrierende Hindernisse im Alltag bedeutet hatte, lernte Rémi in diesen Wochen, dass der Sport es nicht wert war, alles andere dafür zu opfern. Plötzlich war es keine lästige Notwendigkeit mehr, zur Schule zu gehen, sondern zunächst eine willkommene Abwechslung zu der ätzenden Langeweile daheim, bis das Zuhören und Aufsaugen von verschiedensten Informationen das lang vergessene Interesse an der großen weiten Welt weckte. Gleichaltrige begannen, auf den ehemaligen Außenseiter zuzugehen, als dieser Stück für Stück aus seinem Schneckenhaus herauskroch. Freundschaften wurden geschlossen. Und mit diesen strömten so viele neue Themen auf Rémi ein, je mehr er mit Anderen redete: Videospiele, populäre Fernsehserien und Filme, Streit mit den Eltern und junge Romanzen, die gleichzeitig alles und nichts bedeuteten. Mit jedem Tag, der verging, gewöhnte sich der Junge immer mehr an die Rolle eines ganz gewöhnlichen Jugendlichen, die er nach etlichen Jahren der Einsamkeit endlich einnahm. Und in dieser blühte er regelrecht auf.
So sehr, dass der Eisprinz mit dem Gips auch für immer seine Unnahbarkeit ablegte und sich schwor, immer offenen Herzens durch die Welt zu gehen und sich nie wieder selbst so einzuschränken, dass nur eine Sache einen ganzen Menschen definierte.