Prompt 123: Fluch der Zigeuner
Ich weiß nicht, wie ich das hier anfangen soll. Aber ich habe es schon zu lange aufgeschoben, meine Erinnerungen aufzuschreiben und muss es jetzt machen, solange noch Zeit bleibt.
Deshalb ist es wohl am leichtesten, mit dem Tag zu beginnen, an dem ich diese alte Hexe das erste Mal sah.
Es war mein Hochzeitstag und ich hätte nichts als glücklich sein sollen. Unter den Gästen fiel mir jedoch diese Frau auf, die ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte. Niemand außer mir schien sie recht zu bemerken und als ich meine Frau fragte, wer diese Unbekannte war, wusste sie genauso viel wie ich. Die Alte konnte also kein geladener Gast sein.
Ich ging auf sie zu, um sie zu fragen, was sie hier machte, doch wann immer ich vor ihr stand, war da plötzlich niemand mehr. Als würde sich diese Frau in Luft auflösen, wäre ich ihr zu nahe gekommen. So blieben meine Fragen unbeantwortet und als die Unbekannte im Laufe der Feier aus meinem Sichtfeld verschwand, tat sie das in meinem Gedächtnis ebenfalls.
Erst nach der Hochzeit begannen diese seltsamen Dinge zu geschehen. Schon in den Flitterwochen hatte ich das Gefühl, als würde etwas nicht stimmen. Meine Frau, Paulina, war plötzlich so abweisend und niedergeschlagen, wenn sie im meiner Nähe war. Es wurde über die Tage so schlimm, dass wir uns heftig stritten und sie beschloss, den Urlaub vorzeitig zu beenden. Paulina sagte, sie bräuchte eine Auszeit. Und die ließ ich ihr, wenn auch unter Qualen.
Auch nach den Flitterwochen wurde es nicht besser. Immer wieder stritten wir uns und je länger wir zusammen waren, desto mehr schien Paulinas Gesundheit zu leiden. Immer weniger wollte sie Zeit mit mir verbringen und sagte mir im Streit sogar, dass sie um jede Stunde froh war, die ich länger im Büro verbrachte. Etwas an mir schien meiner Frau die Kraft zu nehmen. Wir konnten uns beide nicht erklären, was genau es war, doch die ziemlich harmonischen Jahre Beziehung vor der Hochzeit schienen plötzlich wie weggewaschen.
Meine erste Ehe hielt nicht einmal ein Jahr. Irgendwann war Paulina so ausgelaugt, dass sie sich dafür entschied, mich zu verlassen. Ich sah hilflos zu, wie sie ihre Sachen nahm, ins Auto lud und wegfuhr. Trotz allem hatte ich niemals aufgehört, diese Frau zu lieben. Doch sie hatte genug von mir gehabt.
Ich sah Paulina niemals wieder. Weder weiß ich, was sie heute macht noch ob sie überhaupt noch am Leben ist. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass es ihr gut geht und dass sie ihr Glück in der Ferne gefunden hat. Aber ich werde wohl nie wissen, was mit meiner ersten Frau geschehen ist.
Eine Weile lang blieb ich nach Paulinas Weggang allein. Die Welt mied mich und ich sie. Ich lebte mein Leben, konzentrierte mich auf mich selbst und meine Karriere und arbeitete mich Stück für Stück in der Firma hoch.
Dort traf ich auch auf meine zweite Frau. Sie war Mitarbeiterin einer Firma, die schon lange mit unserer Geschäfte machte. Lange war mir Annika nicht aufgefallen, doch als wir bei einem Geschäftsessen ins Gespräch kamen, funkte es sofort. Aus einer Sommerromanze wurde schließlich etwas Festes und ich glaubte, endlich die perfekte Frau gefunden zu haben, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen würde.
Wir schmiedeten nach etwas einem Jahr Zweisamkeit Hochzeitspläne. Zwar zog bis zur Zeremonie noch etwas Zeit ins Land, doch wir waren uns einfach so sicher miteinander. Wir hatten dieselben Ziele im Leben, verstanden einander und wussten, dass wir unseren Weg zusammen gehen wollten.
Im Gegensatz zu der kurzen Ehe mit Paulina war mit Annika alles gut. Wir liebten uns innig und klebten nahezu aneinander, als wären wir ein frischverliebtes Paar. Die Zeit schien viel zu kurz um unser Bedürfnis nacheinander zu befriedigen. So war es auch nicht verwunderlich, dass es nicht lange dauerte, bis Annika mir eröffnete, dass sie schwanger war. Mit dieser Nachricht schien das Glück perfekt. Beide hatten wir uns ein Kind gewünscht. Es schien, als könnte nun nichts mehr schiefgehen.
So lange, bis Annika diesen Unfall hatte. Ich hatte ihr so oft gesagt, dass sie nicht bis spät in die Nacht arbeiten sollte. Es war gefährlich, im Dunkeln nach Hause zu gehen und der Schlafmangel war nicht gut für das Baby. Doch sie hörte nicht auf mich, weil sie ihren Job so lange machen wollte, wie sie es noch bis zur Geburt des Kindes schaffte.
Annikas Büro war nur wenige Blocks von unserer Wohnung entfernt. Deswegen nahm sie auch nie das Auto, um zur Arbeit zu kommen. Die Gegend war sicher und eigentlich gab es nichts, worüber man sich als Fußgänger hätte Sorgen machen müssen.
Weil es keine Augenzeugen gibt, konnte nie wirklich geklärt werden, was in dieser Nacht geschah. Anwohner hörten einen Schrei und kurz darauf fand man eine bewusstlose Frau auf dem Bürgersteig, die aus einer klaffenden Wunde am Bauch blutete. Es dauerte nicht lange, bis der Krankenwagen eintraf und trotzdem kam für Annika bereits jede Hilf zu spät. Mutter und Kind verloren in dieser Nacht ihr Leben. Die Medien spekulierten auf einen Wahnsinnigen, der absichtlich den Bauch aufschnitt, um das ungeborene Kind zu stehlen, während die Ärzte von einem missglücklichen Raubüberfall ausgingen. Beides war unwahrscheinlich und es spielte für mich auch keine Rolle. Ich hatte die Liebe meines Lebens und meine zukünftige Tochter verloren. Mir war es egal, wie Annika gestorben war. Dass sie tot war, brachte mich an den Rand des Wahnsinns. Wenn man einen geliebten Menschen verliert, ist es, als würden Körper und Seele getrennt werden. Während nach außen hin noch alles funktioniert und man seinem Alltag nachgeht, verzweifelt man im Inneren daran, den Scherbenhaufen zu beseitigen. Immer wieder schneidet man sich und verheilen die Wunden nach einer Weile, werden sie beim nächsten Aufräumversuch aufgerissen. So schleppte ich mich wieder von Tag zu Tag, ohne wirklich mehr in der Gegenwart zu leben. Ich stand vor dem Nichts. Und ich hatte Angst davor, mir wieder etwas aufzubauen, was am Ende ebenfalls zu Bruch gehen würde.
Auf Annikas Beerdigung traf ich wieder die alte, seltsame Frau, die auf meiner ersten Hochzeit gewesen war. Dieses Mal verschwand sie nicht und ich hatte die Chance, die Unbekannte zur Rede zu stellen.
Als ich sie fragte, wer sie war und was sie an einem Tag wie diesem hier zu suchen hatte, schaute sie mich an, als würden ihr allein diese Fragen eine unheimliche Genugtuung verschaffen.
»Ich bin hier um zu sehen, ob mein Fluch auch Wirkung zeigt.«
Ich musste gar nicht fragen, damit die Hexe mir erklärte, was sie damit meinte. »Nachdem meine Tochter starb, wollte ich den, der für ihren Tod verantwortlich ist, bis an sein Ende leiden sehen. Du sollst in derselben Hölle schmoren wie sie es vor ihrem Tod getan hat.«
»Aber was habe ich damit zutun?«, fragte ich, weil ich nicht ganz begreifen konnte, was die Alte mir da eröffnete. Ich hatte sie vor meiner ersten Hochzeit nie zuvor gesehen. Dementsprechend würde ich auch nichts mit ihrer Tochter oder deren Tod zu tun haben können.
»Du bist der, der sie ins Grab geschickt hat«, klagte mich die Greisin zeternd an. »Jahre lang hat dich meine arme Ceija aus der Ferne angeschmachtet und in ihrer kleinen Traumwelt gelebt, ohne dass sie die Realität sehen wollte. Sie war nur ein stilles Mäuschen, das im Café gegenüber arbeitete, in dem du ständig deine Mittagspausen verbracht hast. Immer hat sie von dir geschwärmt und es wirkte manchmal so, als wärst du die wichtigste Person in ihrem Leben. Dabei hat sie doch nie mit dir gesprochen! Sie sagte, dass sie dir immer wieder kleine Hinweise gegeben hätte. Doch für dich war sie nur ein beliebiges Mädchen, das dir deinen Kaffee serviert hat. Trotzdem hat Ceija nie aufgehört, dich aus der Ferne zu lieben. Sie hat sich eine Zukunft mit dir ausgemalt und gemeint, dass du die Liebe ihres Lebens wärst.
Bis sie dich mit einem anderen Mädchen gesehen hat. Du hattest es gewagt, ein Date mit deinem Liebchen in genau dem Café zu haben, in dem meine Ceija arbeitete. Euch herumturteln zu sehen, hat ihr das Herz gebrochen. Meine arme Tochter kam nie wieder heim. Sie hat sich vor den Zug geworfen, den sie sonst immer genommen hat, um nach Hause zu kommen. Nicht mal das hast du mitbekommen, stimmt's? Wegen dir hat Ceija sich umgebracht. Wegen deiner Ignoranz habe ich mein einziges Kind verloren. Da ist es nur gerecht, dass ich dir das nahm, was du ihr verwehrt hast. Nie wirst du Glück finden. Alle Frauen, die sich dir zuwenden, werden ein grausames Schicksal erleiden, solltest du ihnen einn Ring anstecken. Du hast es nicht verdient, ungestraft mit deinen Sünden davonzukommen.«
Natürlich wollte ich der Frau nicht glauben, als sie mir all das entgegenspuckte. Ich sollte schuld am Tod eines mir unbekannten Menschen sein? Und noch unglaubwürdiger: Ein Fluch sollte der Grund für all das Unheil in meinem Leben sein? So wischte ich die Worte der verrückten Alten irgendwann beiseite und wandte mich meinen seelischen Aufräumarbeiten zu.
Erst als ich Larissa traf, dachte ich wieder an den angeblichen Fluch. Nach den ersten paar Dates wurde mir klar, dass diese Frau mehr war als nur eine flüchtige Bekanntschaft. Ich war nicht mehr so Hals über Kopf verliebt in sie wie in Annika damals, aber ich wusste, dass mit Larissa in neuer Abschnitt meines Lebens beginnen würde.
Heute war ich mit ihr in demselben Café, in das ich auch Paulina damals augeführt habe. Ich weiß nicht, warum es mich gerade dorthin verschlagen hat, doch von dem Moment an, in dem ich den Raum betrat, hatte ich das Gefühl von Geistern umgeben zu sein. Es war unerträglich und mich traf die Erkenntnis, dass die Alte damals vielleicht doch nicht nur verrücktes Zeug gebrabbelt hatte. Ich bin ein Unglücksbringer. Alle, die an meiner Seite sind, werden früher oder später auf irgendeine Weise dahingerafft. Und das alles nur, weil ein Mädchen unglücklch verliebt war?
So oder so habe ich beschlossen, mich nie wieder mit Larissa zu treffen. Allein, weil ich sie schützen möchte. Sie wird mich für ein Arschloch halten, doch die Wahrheit würde sie mir auch nicht glauben, selbst wenn ich versuchen würde, sie zu erklären. Ich kann einfach nicht das Risiko eingehen, dass dieser wundervollen Frau auch etwas passiert. Egal, ob nun der Fluch echt ist oder nicht, ich will nicht noch einmal von vorn beginnen müssen.
Deshalb habe ich das auch alles aufgeschrieben. Um nicht mehr das Gefühl haben zu müssen, verrückt zu werden. Diese Ungewissheit macht mich wahnsinnig. Ich weiß nicht, wie es von nun an weitergehen wird, aber wenn ich nicht immer wieder zum Mörder wider Willen werden will, muss ich mich wohl mit der Einsamkeit abfinden, bis der Fluch mich ebenfalls dahinrafft.