Prompt 132: Aus alter Zeit
»Opa, was ist das?«
Marlene hielt dem alten Mann im Sessel eine kleine, alte und vermutlich ehemals cremefarbene Schachtel hin, die sie eben erst auf dem Dachboden gefunden hatte. Diese nahm der Greis mit einer etwas zittrigen Bewegung an sich und nickte zunächst nur stumm. Sein Blick wurde leer, als er wie üblich leise und etwas angestrengt zu sprechen.
»Die hat deiner Großmutter gehört. Da hat sie alle Briefe reingetan, die ich ihr damals schrieb. Die hat sie mir zurückgegeben, als sie ging.«
Sofort fühlte Marlene sich schlecht, ihren armen Großvater mit diesen lang vergrabenen und nur halb überwundenen Erinnerungen zu überschütten. Aber wie hätte die junge Frau auch wissen können, dass die Schachtel voll mit Dingen von gerade der Frau war, die ihr Opa über alles gelebt und die ihn allein mit seinem Sohn hatte sitzen lassen, um ihr Glück in der Ferne zu suchen. Seitdem war vor allem für Thomas, Marlenes Vater, auch nur die Erwähnung des Namens seiner Mutter ein rotes Tuch. Marlene konnte sich nicht vorstellen, dass es für ihren Großvater Walter anders sein könnte. Immerhin war er der, der urplötzlich und grundlos von der Liebe seines Lebens verlassen worden war.
Doch noch bevor die Enkelin sich entschuldigen konnte, begann der alte Mann von einer längst vergangenen Zeit zu erzählen.
»Ich bin diese Briefe immer wieder durchgegangen. Meine und ihre. Es waren ganze Gespräche, die ich wieder und wieder lesen konnte. Am Anfang hat es noch wehgetan, diese Worte voller Liebe zu lesen. Weil sie sich am Ende als einseitig herausgestellt hat. Aber nach einiger Zeit wurde es leichter. Ich kann diese Briefe immer noch auswendig, obwohl ich vor Jahren beschlossen habe, sie auf den Dachboden zu stellen und zu vergessen. Doch das ist nie passiert. Ich wusste, dass die Schachtel noch da war und wegen ihnen konnte ich auch deine Großmutter nie ganz aus meinem Leben streichen. An Feiertagen, zu Familienfesten oder auch dann, wenn ich allein hier saß und einfach zu viel Zeit zum Nachdenken hatte, drehte sich alles nur um Christa. Ich fragte mich wo sie nun ist, wie es ihr geht und ob sie nun glücklicher ist. Aber vor allem habe ich nie aufgehört, mir Vorwürfe zu machen. Wäre ich nur ein besserer Ehemann gewesen, hätte ich ihr nur das Leben bieten können, das sie sich gewünscht hatte, dann wäre sie sicher bei mir geblieben. Dann hätten die Liebesschwüre in den Briefen gestimmt und dein Vater hätte eine Mutter haben können. Doch all das hat nicht so sein sollen.«
Leben kehrte zurück in Walters Gesicht und er lächelte seine Enkelin etwas beschämt an. »Tut mir leid, dass du das Gebrabbel eines alten Narren ertragen musstest. Danke, dass du hier bist und die Schachtel gefunden hast. Jetzt, wo ich eh umziehen muss, sollte ich etwas machen, was ich vor Jahren hätte tun sollen.«
Mit diesen Worten erhob Walter sich, hielt die Schachtel fest in der Hand und beförderte diese in den riesigen Müllsack, den Marlene mitgebracht hatte, um zu sortieren, was ihr Opa mit ins Altersheim nehmen, oder was er endgültig loswerden wollte.
Allein von diesem Akt erschöpfter als von dem stundenlangen Aufräumen zuvor, ließ Walter sich wieder in den Sessel fallen.
Die junge Frau stand nur da und wusste für einen Moment nicht, wie sie reagieren sollte.
»Bist du dir sicher, dass du sie nicht mitnehmen willst? Ich kann sie dir gern wieder herausholen.«
Walter schüttelte jedoch vehement den Kopf. »Nein, ich habe genug Zeit damit verschwendet, nur in der Vergangenheit zu leben. Ich bin alt und will nicht mehr grübeln, was ich vor beinahe fünfzig Jahren hätte anders machen können. Den Rest meines Lebens will ich genießen und hinter mir lassen, was heute keine Rolle mehr spielt.«
Noch nie hatte Marlene ihren Großvater so zufrieden mit sich und der Welt gesehen. All der Schmerz schien mit dem Wegwerfen der Briefschachtel von ihm gewichen zu sein. Und Marlene konnte gar nicht anders, als über beide Ohren zu lächeln und sich für ihren Opa zu freuen.