Prompt 141: Spiegel
Es hatte kaum eine halbe Stunde gedauert, ehe sich im Gesicht der in die Jahre gekommenen Dame statt Wiedersehensfreude eine unverhohlene Skepsis breitmachte.
Toshiro hatte sich lange darum gedrückt, dass seine Mutter für einen ihrer typischen Anstandsbesuche machte. Doch heute hatte die übliche Ausrede, dass der junge Mann ein wichtiges Arbeitsprojekt hätte und keine Zeit für Besuch hätte, keine Wirkung gezeigt. Frau Masuda war ungeduldig geworden und hatte heute unangekündigt vor der Haustür ihres zweitgeborenen Sohnes gestanden. Und wer würde schon seine eigene Mutter abweisen?
Während die ältere Dame durch die Räumlichkeiten streifte und ihrer Überfürsorglichkeit freien Lauf ließ, folgte Toshiro seiner Mutter und versuchte, seine Anspannung nicht zu zeigen. Heute war es schlimmer als sonst. Denn auch wenn es nicht unordentlich war und der junge Mann sonst nichts Offensichtliches zu verbergen hatte, gab es etwas, was der Besucherin nicht auffallen sollte.
Wie Mütter jedoch sind, hatte auch Frau Masuda die Augen eines Adlers und den Verstand eines Fuchses. »Warum hast du alle Spiegel abgehängt?«
Toshiro hatte mit dieser Frage gerechnet und eine Antwort vorbereitet, jedoch fühlte er sich trotzdem, als hätte er gerade eine Ohrfeige kassiert.
»Sie haben mich einfach gestört.«
Es war klar, dass die Mutter eine schlechte Lüge wie diese sofort durchschaut hatte. Jedoch ließ Frau Masuda nichts davon anmerken und beendete ihren Rundgang. Dabei wirkte es auf einmal, als würde sie sich beeilen und weniger Wert auf Sorgfalt legen als vor der Spiegelfrage. Toshiro schämte sich ein wenig, seiner Mutter Unbehagen bereitet zu haben, doch begleitete sie stumm zur Haustür.
»Dann lasse dich dich mal wieder allein. Gib dein Bestes bei deinem Projekt und falls du etwas brauchst, kannst du mich ruhig anrufen. Ich hab dich lieb, mein Sohn.«
Immer wieder lief es dem jungen Mann kalt den Rücken herunter, wenn seine Mutter sich so verabschiedete. Nie hatte sie offen Zuneigung gezeigt. Jetzt kam es beinahe schon zu oft vor, dass Frau Masuda Toshiro wissen lassen wollte, dass er ihr viel bedeutete. Immer hatte es einen bitteren Beigeschmack und nie wusste er, was er daraufhin erwidern sollte.
Also ließ der junge Mann seinen Besuch von dannen ziehen und genoss für einen Moment die Stille, die jetzt wieder in der Wohnung herrschte.
Doch dann war es Toshiro wieder zu ruhig. Die Schuldgefühle, seine eigene Mutter erst angelogen und dann so schäbig abgewimmelt zu haben, rückten in den Hintergrund. Wie im Wahn eilte der junge Mann ans andere Ende der Wohnung, betrat sein kleines Schlafzimmer und zog unter dem Bett im westlichen Stil, das zuvor von der traditionell eingestellten Masuda bemängelt und dann regelrecht ignoriert worden war, was er zuvor so panisch zu verstecken versucht hatte. Unter einem schwarzen Tuch voller weißer Kreidesymbole, die stets intakt bleiben mussten, kam ein handelsüblicher Wandspiegel zum Vorschein. Und mit diesem ein Spiegelbild, das Toshiro zwar recht ähnlich sah, jedoch nicht so sehr, dass man den Betrug nicht sofort durchschaut hätte.
»Du hast alles mitangehört, richtig?«, fragte Toshiro sein Spiegelbild.
Dieses nickte. »Du weißt, dass ich gar nicht anders kann. Und ich verstehe immer noch nicht, warum du ihr nicht die Wahrheit sagst.«
Es war nicht, das erste Mal, dass Shojiro, der Ältere der beiden Brüder, dieses sensible Thema ansprach. Und auch die Antwort blieb dieselbe.
»Was glaubst du denn, warum ich ihr nichts sage? Selbst wenn ich unserer Mutter erklären würde, dass ich es geschafft habe, die Seele meines verstorbenen Bruders zu beschwören und in Spiegeln zu bannen, denkst du, dass sie mir auch nur ein Wort glauben würde?«
Shojiro seufzte leise, ehe ihm die Verbohrtheit seines Bruders ein kleines, etwas unterkühltes Schmunzeln entlockte. »Du genießt doch einfach nur die Aufmerksamkeit, die du jetzt als Einzelkind bekommst und willst deshalb Mutter nicht sagen, dass ich gar nicht wirklich tot bin.«
Der Witz ging daneben. Toshiro fühlte sich verletzt von dieser Bemerkung, da sie genau das ansprach, was er sich selbst so oft vorwarf. Die Zweifel, ob der junge Mann richtig oder falsch handelte, waren mal laut, mal leise, aber doch immer da. Trotzdem wollte er noch einmal deutlich machen, dass es einen Grund für dieses dumme Versteckspiel gab.
»Für die Welt außerhalb dieser Wohnung bist du vor zwei Jahren gestorben. Nachdem gerade unsere Mutter alles Menschenmögliche getan hat, um dich am Leben zu halten, ehe du den Kampf gegen die Krankheit verloren hast. Zwei Jahre sind nicht genug, um über den Verlust des eigenen Sohnes hinwegzukommen. Und wenn ich jetzt sagen würde, dass du nie wirklich tot warst, wird das all den Schmerz, den unsere Mutter bis zu diesem Zeitpunkt gefühlt hat, zunichtemachen. Die Wunden jetzt schon aufzureißen, würde sie an den gleichen Ort bringen wie dich.«
Damit schien Shojiro sich zufrieden zu geben. »Bis du keine Angst mehr davor hast, was Mutter über dein kleines Geheimnis denken könnte, muss ich wohl mit dir als Gesellschft vorlieb nehmen, Bruderherz.«
Wieder einmal endete eines von vielen surrealen Gesprächen. Wieder klagten Toshiro die Zweifel, als er seinem Bruder einen erholsamen Schlaf wünschte, den Spiegel wieder in das Tuch wickelte und unter dem Bett verstaute. In ein paar Stunden würden die Brüder erneut miteinander sprechen. Allein schon, damit Toshiro sich vergewissern konnte, ob das alles nicht doch nur ein langer, sehnsuchtsvoller Traum war.