Prompt 119: Ruhe vor dem Sturm
Sein Blick war auf die Straße gerichtet ohne sie recht zu sehen. Die Dämmerung setzte ein und färbte die Welt so trüb wie die Gedanken des Mannes, der sich auf dem Heimweg befand.
Am liebsten würde der Fahrer gar nicht am Ziel ankommen. Die Straßen sollte sich ewig hinziehen, damit er sich dem, was vor ihm lag, niemals stellen musste. Doch so gnädig war die Zeit nicht. Sie raste dahin und machte es nicht leichter, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
Wie sollte der Mann nur seiner Frau in die Augen sehen? Wie jeden Abend würde sie auf ihn warten. Wie jeden Abend würde sie ihn mit einem Heimkehrkuss begrüßen, bevor sie ein offenes Ohr für alles hatte, was sich ihr Partner von der Seele reden musste. Wie jeden Abend würde der Mann sich schuldig fühlen, dass er diesem Menschen, der durch dick und dünn mit ihm gegangen war, Gefühle vorlog, die schon lange verflogen waren.
Heute würde der Verbrecher sein Verbrechen gestehen. Zu lange lebte er schon mit der Lüge, die ihn regelrecht erdrückte. Endlich musste der Mann laut aussprechen, was er schon seit beinahe einem Jahr dachte. Diese Ehe, die seit fast einer Dekade bestand, hatte keine Zukunft. So sehr die Frau auch scheinbar an der Bequemlichkeit hing, der Mann hatte nur noch das Gefühl, mit einer Fremden das Bett zu teilen. Die Begierde war verflogen. Bloßes Interesse war vorgeheuchelt. So leid es dem Mann auch tat, er wollte nicht noch mehr Zeit verschwenden.
Doch wie sagte man das, ohne grausam zu sein? Schon bevor auch nur ein Wort gesprochen war, wusste der Mann, wie seine Partnerin reagieren würde. Sie würde toben, in Tränen ausbrechen und vermutlich nicht verstehen, woher dieses plötzliche Ende kam. Doch das würde nichts ändern. Es würde das Richtige sein, endlich ehrlich zu sein. Beide würden erlöst sein und es würde Raum für einen friedlichen Neuanfang geben.
Noch schwieriger würde es für den Mann werden, den Grund für die Scheidung zu nennen. Immer hatte das Thema Familienplanung zwischen den Eheleuten gestanden. Wieder und wieder hatten sie versucht, Kinder zu bekommen, doch nie hatte es geklappt. Frust hatte sich aufgebaut, ebenso wie das Gefühl, das mit einem von beiden etwas nicht stimmen musste. Vorwürfe wurden gemacht, Versöhnungen nur halbherzig vorgenommen und immer weiter schaffte die Unfruchtbarkeit eine kalte Distanz, die sich kaum noch überwinden ließ. Schweigen hatte das Problem nicht lösen können. Verdrängung machte den Kinderwunsch nicht ungeschehen. Und egal wie erfüllt das Leben der beiden Eheleute bisher gewesen war, der Mann konnte sich nicht damit abfinden, niemals eine Familie gründen zu können.
Jetzt war da eine jüngere Frau, die das Kind des Mannes austrug. Auf der Arbeit hatte er sie kennengelernt und anfängliche Sympathie hatte sich schnell zu einer leidenschaftlichen Romanze entwickelt. Die Welt des Mannes hatte sich von einem Tag auf den anderen radikal verändert. Amelie war sein Ein und Alles. Sie ließ den Mann wieder lebendig fühlen und auch schon vor dem positiven Schwangerschaftstest hatte sie ihm endlich die Zukunft eröffnet, die er sich erträumt hatte. Wie konnte er da Nein sagen und sich weiter in seinem Unglück suhlen?
Allmählich kam die heimische Einfahrt in Sicht. Gleich würde sich das Mann seiner gerechten Strafe stellen. Er war bereit. Heute war der Tag, an dem alles herauskommen würde. Es musste enden. Auch wenn der Mann immer noch nicht wusste, wie genau er sein Geständnis machen sollte.
Das Auto kam zum Stehen. Das letzte Licht des Tages starb leise dahin und der Mann blieb sitzen. Sein Blick ging ins Leere. Kein einziger Gedanke formte sich mehr. Es spielte keine Rolle mehr. Die Wahrheit würde ihren Weg schon finden. Der Rest musste einfach ausgehalten werden, egal was geschah.
Die Nacht hatte sich längst über die Welt gelegt, als der Mann endlich ausstieg. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Mit einem leisen Seufzen öffnete er die Tür und kündigte seiner wartenden Frau mit einem leisen Ruf mit, dass er nun Zuhause war.