Prompt 127: Unter Zeitdruck
Es war bedrückend still im Raum, als der Pfarrer sein letztes Wort gesprochen hatte. Die überwältigende Trauer, die alle Anwesenden wie eine tiefschwarze Wolke umgab, schluckte selbst das leise Weinen, das von den Bänken her erklang.
Lance' Hände zitterten, als er sich, wie zuvor abgesprochen, von seinem Platz erhob und auf das Podium zuhielt. Vor allen anderen sollte der junge Mann eine Rede halten. Weil er der Letzte gewesen war, der Tucker lebend gesehen hatte.
Am Pult angekommen hatte Lance das Gefühl, als wäre er eigentlich gar nicht richtig anwesend und durchsichtig. Ebenso leer war Lance' Kopf in diesem Moment. Vergessen war alles, was das junge Mann gestern Abend noch geprobt hatte. Doch es tat sich keine Nervosität auf. Immerhin wusste Lance genau, was er mit den anderen Trauernden teilen sollte. Nur er allein wusste, warum sie sich heute alle in dieser Kapelle versammelt hatten. Und es war an der Zeit, dass die dunklen Wolken aufklarten.
»Tucker war jemand,der seine Regenwolken hinter einer dicken Wand aus Sonnenschein verbarg.«
Allein diesen ersten Satz auszusprechen, riss Lance beinahe den Boden unter den Füßen weg. Das Schweigen war gebrochen, doch am liebsten hätte der junge Mann seine Worte wieder zurückgenommen. Die Tränen wollte fließen, doch das ließ er nicht zu. Lance wollte stark sein. Für alle, die es gerade nicht sein konnten. Dafür, dass diese Beerdigung nicht die letzte Erinnerung an Tucker sein sollte. Weil er nun einmal Lance' bester Freund und mehr als nur sein trauriges Ende gewesen war.
»Er war ein Freund, dem man alles anvertrauen konnte, was einen belastete. Es gab gute Tage und solche, die man am liebsten nie erlebt hätte. Und immer war Tucker mein Fels in der Brandung. Es schien nie so, als könnte ihn irgendetwas erschüttern. Ich habe ihn immer für diese Ruhe bewundert. Ich wollte wie Tucker sein, aber immer wenn ich ihm genau das sagte, lachte er nur, weil er sich selbst nur als einer unter vielen sah.
Eine Woche vor seinem Tod gab er mir eine Liste mit sieben Stichpunkten. Als ich ihn fragte, was das sein sollte, lächelte Tucker nur. >Hast du sieben Tage Zeit?<, fragte er mich auf eine Art, zu der ich niemals hätte Nein sagen können. Jeder Stichpunkt stand für einen Tag und das, was Tucker an diesem erledigen wollte. Schule, andere Freunde, Familie oder was auch immer uns beschäftigen könnte, hätten plötzlich keinen Platz mehr in unserem Leben. Es gab nur noch uns beide und diese Liste, die Tucker unbedingt in einer Woche abarbeiten wollte.«
Lance könnte gar nicht anders als wie ein Idiot zu schmunzeln, während er sich beim Erzählen in diese nicht allzu ferne Vergangenheit zurückversetzte. Als alles noch in Ordnung gewesen war und sein Freund nicht mehr als ein außergewöhnlicher und gleichzeitig ganz normaler Junge.
»Am ersten Tag waren wir bei ihm zuhause gewesen um ein wenig auszumisten. Penibel teilte Tuck seine Sachen in Müll, solche, die verkauft werden sollten und solche, die ihm zu wichtig waren, um sie wegzugeben, ein. Im Nachhinein meine Tucker, dass er das schon längst hätte machen sollen und endlich eine große Last von ihm abfiel, als wir unsere Arbeit beendet hatten. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was diese Worte zu bedeuten hatten. Erst wenn man eine Situation in allein Einzelheiten kennt, ergeben solche Andeutungen einen tieferen Sinn.
Am zweiten Tag kauften wir einen Berg an Snacks und schauten Filme, die Tucker unbedingt hatte schauen wollen. Unter anderen Umständen wäre es ein ereignisloser und gewöhnlicher Tag gewesen, doch irgendwie kam es mir vor, als hätten wir gemeinsam tausende Abenteuer durchgestanden und mehrere Leben gelebt. Genauso schien es Tucker zu gehen. Er wirkte so zufrieden und sagte, dass wir das hätten öfter tun sollen, wenn es die Zeit doch nur zugelassen hätte. Immer wieder warf er mir diese kleinen Hinweise vor die Füße, ohne dass ich sie als solche erkannte. Für mich waren es nur etwas seltsame Ausdrücke dessen, was ich ebenfalls fühlte. Wie sollte ich nur wissen, dass so viel mehr dahinter steckte?
Danach machten wir eine Radtour zu einem See, gingen skaten, schafften einen Escape Room und gaben zu viel Geld aus auf Tuckers erstem Ausflug in einen Freizeitpark. Die Erinnerungen, die wir gemeinsam in dieser zeit machten, gehören zu den glücklichsten meines Lebens. Ich bin froh, dass Tucker mir diese Liste gegeben hatte. Wir taten nichts Besonderes, doch gleichzeitig waren diese letzten Tage wie der Kern unserer Freundschaft. Nichts ist schöner als seine Zeit mit einem geliebten Menschen zu verbringen. Dabei ist es ganz egal, was man eigentlich tut. Hauptsache, man tut es gemeinsam. Das war, was Tucker mich in dieser Woche gelehrt hatte.
Am siebten Tag redeten wir einfach nur. Wir lagen auf Tuckers Bett und stundenlang flogen die Worte umher, als wäre es das erste Mal gewesen, dass wir wirklich miteinander gesprochen hatten. Irgendwann erzählte er mir, dass das hier sein letzter Tag auf Erden sein würde. Tuck sagte das so beiläufig, als wäre es eigentlich gar nicht erwähnenswert. Von da an wusste ich, dass er schon lange Depressionen gehabt hatte und nun müde war, diesen Krieg gegen sich selbst weiterzuführen. Tucker hatte der Welt jahrelang ein Gesicht gezeigt, das ihm nach und nach die Kraft geraubt hatte. Er hatte vor gehabt, sich um Mitternacht umzubringen und hatte seine letzten Tage mit dem Menschen verbringen wollen, der ihm neben seinen Eltern am meisten bedeutet hatte.
Nichts hätte Tucker umstimmen können. Sein Ende stand fest und er hatte mich zu einem Mitwisser gemacht. Auf der einen Seite bin ich dankbar dafür, auf der anderen wäre es leichter gewesen, einfach nur trauern zu können ohne zu wissen, warum mein Freund so plötzlich gegangen ist. Doch er war nun einmal genau das und er hat mir am Ende so sehr vertraut, dass er mir allein sein wahres Ich gezeigt hatte.
Tuck, es tut mir leid, dass ich so blind war und die nicht habe helfen können, weil ich nicht verstanden habe, wie sehr du gelitten hast. Wo auch immer du jetzt bist, hoffentlich geht es dir jetzt besser. Ich vermisse dich und wünschte so sehr, dass wir noch mehr gemeinsame Erinnerungen machen könnten.«
Mit diesen Worten endete Lance' Rede. Kaum hatte er das Podium verlassen, flossen schon die Tränen, die er sich so lange verboten hatte.