Prompt 116: Stoppelfelder
Diese Geschichte ist etwas ausgeartet, ich gebe es ja zu. Aber es war es mir wert, hier mal die Challengeregeln zu brechen und einfach über die Stunde hinauszuschreiben.
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Tausend Mal war Eric schon an diesem Stoppelfeld vorbeigelaufen, das ihn einen Großteil seines Schulweges begleitete. Erst jetzt, beim tausendundersten Mal schenkte der Junge seiner Umgebung etwas Aufmerksamkeit. Er wusste nicht genau, was ihn dazu gebracht hatte, doch irgendetwas hatte diese leere Fläche an sich, was ihn einfach nicht den Blick davon abwenden ließ.
»Alles klar bei dir?«
Die Stimme seines besten Freundes, Carter, riss Eric aus der Trance. Auch wenn er sofort antworten wollte, verzögerte sich seine Reaktion etwas. Immerhin dauerte es einige Momente, sich vom Anblick des Stoppelfelds, über das der Junge gerade noch so angestrengt nachgedacht hatte, zu lösen.
»Ja schon. Ich habe mich nur gefragt, was es damit auf sich hat.« Er nickte in Richtung Feld, doch wagte es nicht, es wieder direkt anzusehen, um nicht wieder dessen Charme zu erliegen.
»Was soll es schon groß damit auf sich haben?«, erwiderte Carter verwirrt. »Das ist das Feld, an dem wir fünf Tage die Woche vorbeilaufen, ohne es zu beachten. Bin ich heute echt so langweilig, dass du dich lieber auf ein paar tote Pflanzen konzentrierst?«
Auch wenn der Blonde nur versuchte, die Stimmung wieder einmal etwas aufzulockern, war Eric so abgelenkt, dass er nicht wirklich darauf eingehen konnte. So verpuffte dieser kleine Witz einfach, ohne den gewünschten Effekt zu erzielen.
»Aber hast du dich denn nie gefragt, warum man das andere Ende nicht sehen kann?«
»Ist halt ein großes Feld.« Das war alles, was Carter dazu einfiel.
»Schon klar, aber es ist doch ein bisschen seltsam, oder? Wenn der Weizen in voller Blüte steht, kann man natürlich nichts sehen, weil die Pflanzen die Sicht versperren. Aber jetzt nach der Ernte sollte man doch zumindest ein Ende erahnen können, oder? Keine Ahnung, ich finde das einfach unheimlich.«
»Ich glaube ja eher, dass du dir da echt komische Dinge einredest«, widersprach Carter erneut. »Und bevor du mir hier weiter rumspinnst, beweise ich dir sogar, dass das einfach nur ein stinknormales Feld ist.«
Mit diesen Worten ergriff er die Hand seines Freundes und zog diesen mit sich auf das Stoppelfeld hinaus. Für eine Weile liefen sie einfach nur nebeneinander her, wie sie es auf jedem Heimweg seit Jahren taten. Nur dass niemand sprach. Alles andere als Stille fühlte sich einfach unpassend an.
Diese wurde erst gebrochen, als Eric stehen blieb und vor sich deutete. »Siehst du? Es ist immer noch kein Ende in Sicht.«
»Wir sind ja auch erst ein paar Schritte gegangen!« Entrüstet schaute Carter seinen Freund an.
»Blödsinn«, widersprach der Dunkelhaarige. »Wir sind doch mindestens fünf Minuten einfach nur geradeaus gelaufen. Das sind mehr als ein paar Schritte, wenn du mich fragst.«
Darauf erwiderte der Blonde nichts. Stattdessen drehte er sich kurz um, um sich zu vergewissern, dass sein Freund nun wirklich den Verstand oder zumindest sein Zeitgefühl verloren hatte. Doch das, was Carter sah, ließ ihn eher an seinem eigenen Verstand zweifeln. Deshalb blinzelte der Junge auch mehrmals und war sogar versucht, sich selbst zu kneifen, um sich zu versichern, dass er nicht träumte.
»Was ist?«, fragte Eric, als dieser bemerkte, wie nun auch sein Gegenüber unruhig wurde.
»Du hattest recht. Irgendetwas stimmt mit diesem Feld nicht.«
Diese Aussage veranlasste nun auch den dunkelhaarigen Jungen, sich umzudrehen. Vor ihm erstreckte sich ein endloses Feld - von dem Weg, den die beiden Schüler erst vor wenigen Minuten verlassen hatten, war keine Spur mehr zu sehen.
Für eine Weile herrschte wieder Schweigen. Dann erst setzte sich das Bild in Erics Kopf zusammen. »Kein Anfang, aber auch kein Ende. Was zum Teufel ist das hier?«
In dieser Frage lag so viel Verzweiflung, dass Carter zusammenzuckte. Sich so verloren auf diesem Feld zu fühlen war beängstigend, klar, aber es war nichts gegen die blanke Panik, die sich nun in Erics dunklen Augen widerspiegelte. So war es auch nicht verwunderlich, dass der Junge sich von einem Moment auf den anderen von Carter losriss und losrannte, als würde es um sein Leben gehen.
So verwundert er auch für einen Augenblick war, dass Eric nicht in die Richtung rannte, aus der sie gekommen waren, kam es dem Blonden nicht wichtig vor. Stattdessen bemühte er sich, zu seinem Freund aufzuschließen, um ihn nicht auch noch aus den Augen zu verlieren. Allein auf diesem Feld zu sein, machte Carter mehr Angst als alles andere.
Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, dass er Eric folgte, nur den eigenen Atem hörte und spürte, wie irgendwann jeder Schritt zur Qual wurde. Doch beide Jungen dachten gar nicht daran, eine Pause einzulegen. Zuerst mussten sie das Ende erreichen. Egal wo sie dort ankommen würden, alles war besser als auch nur noch eine Sekunde länger auf diesen verfluchten Stoppelfeld zu bleiben.
Doch es gab kein Ende. Es schien, als würden sie zwar rennen, aber keinen einzigen Meter vorankommen. Hingegen schien die Zeit regelrecht zu rasen und gegen die Flüchtenden zu arbeiten. Wo zuvor die Sonne gerade erst den Zenit überschritten hatte und den Nachmittag eingeleitet hatte, war plötzlich alles schwarz. Die Nacht war hereingebrochen und weder Mond noch Sterne erklärten sich bereit, den Jungen den Weg zu leuchten. Stattdessen meinten beide nur, hin und wieder Schatten um sich herumhuschen zu sehen. Doch niemand hatte die Zeit, anzuhalten und sich zu vergewissern, was sie da eigentlich sahen. Die Jungen rannten schweigend und ohne auch nur in die Nähe ihres Ziels zu kommen. Es gab keinen Ausweg. Diese Erkenntnis wurde jedoch von der Verzweiflung überschattet, die alles in Nebel hüllte, was nicht blanke Angst war.
So war es auch nicht verwunderlich, dass es nicht lange dauerte, bis einer von beiden zusammenbrach. Carter merkte zunächst nicht, wie seine Beine vor Erschöpfung einfach nachgaben und er zu Boden fiel. Und er blieb einfach liegen. Die Kraft fehlte um sich auch nur aufzurichten. So starrte der Junge einfach nur den Himmel an, spürte, wie dankbar ihm sein Körper für diese Pause war und fand sich endlich mit der Situation ab.
Carter lächelte sogar, als Eric zu ihm kam, um ihn wieder auf die Beine zu ziehen. »Lass nur, es bringt doch sowieso nichts. Es ist ausweglos. Egal wie viel wir auch rennen, wir sind hier gefangen. Tut mir leid, dass ich nicht auf dich gehört habe. Du hattest recht. Etwas stimmt nicht und jetzt ist es zu spät. Wir werden hier sterben. Aber hey, immerhin verbringe ich meine letzten Momente mit meinem besten Freund. Auch wenn es meine Schuld ist, dass wir hier sind.«
Im Gegensatz zu dem Blonden hatte der Dunkelhaarige noch nicht aufgegeben. »Nein«, sagte er mit Nachdruck. »Wir werden hier nicht sterben. Es muss einen Ausweg geben.«
»Was hast du denn vor?«, fragte Carter etwas irritiert. Er konnte sich auf kaum etwas anderes als die Schmerzen, die sich durch seinen Körper zogen, konzentrieren. Es war bewunderswert, dass Eric scheinbar noch die Kraft hatte, klare Gedanken zu fassen.
»Ich werde Hilfe holen, okay? Ist es in Ordnung, wenn ich dich hier lasse? Ich komme gleich wieder, versprochen. Wir werden hier nicht sterben, hörst du? Ich hole Hilfe, wenn ich das andere Ende erreicht habe und dann wirst du gerettet. Du schaffst das, oder? Bleib einfach hier.«
Carter nickte. So gut er zumindest konnte, so gelähmt wie er mittlerweile durch die Schmerzen war. »Ich bin nur müde, nicht sterbenskrank. Ich komme schon klar. Jetzt geh schon.«
Eric nickte. »Okay. Bin gleich wieder da. Ruh dich gut aus, damit du wieder laufen kannst, wenn ich wiederkomme.«
Er hatte ein schlechtes Gefühl bei der Sache, als er sich von seinem Freund abwandte und weiter in die Richtung lief, in der eigentlich das Ende dieses verfluchten Stoppelfeldes sein sollte. Dem Jungen kam es vor, als hätte er Carter gerade zum letzten Mal gesehen. Doch diesen Gedanken wischte der Dunkelhaarige schnellstmöglich beiseite. Er wollte die Hoffnung noch nicht aufgeben. Es war noch nicht zu spät, endlich aus diesem Gefängnis auszubrechen.
Und tatsächlich tat Eric das auch kurze Zeit später. Eben noch rannte er ins Leere und im nächsten stand er auf einer Straße. Das Feld hatte ein Ende. Und noch viel wichtiger: Der Junge hatte es erreicht.
Es blieb keine Zeit zum Jubeln. Er musste Hilfe finden. Wie auch immer diese aussehen sollte, Eric wollte sein Versprechen einhalten. So schaute er sich um und versuchte einen Anhaltspunkt zu finden, wo er am besten auf andere Menschen treffen könnte, die Carter aus dem Feld holen würden. Doch das Erste, was dem Dunkelhaarigen auffiel, war, dass ihm nicht das Geringste bekannt vorkam. Wie weit war er nur gelaufen? Die Nacht war vorüber, doch er konnte sich nicht vorstellen, dass er und Carter mehrere Stunden lang gerannt waren. Das war einfach unmöglich.
Das Zweite war, dass diese Welt vollkommen leer zu sein schien. Eric sah zwar vereinzelte Häuser, die sich in der Ferne zu einer kleinen Stadt verdichteten, doch weder hörte er den üblichen Lärm des Alltags noch sah er auch nur einen einzelnen Menschen in der Nähe. Es sang nicht einmal ein Vogel oder ähnliches. Wo auch immer der Junge hier gelandet war, dieser Ort war wie ein Gemälde, das zwar wie die Realität sein wollte, aber doch nur eine fehlerhafte Kopie blieb.
Eric drehte sich bereits um, um wieder auf das Feld zu stürmen und Carter rauszutragen, wenn es sein musste. Alles war besser als diese unheimliche Stille. Doch das Stoppelfeld war verschwunden. Nun stand es in voller Blüte. Der Weizen wuchs über den Kopf des Jungen hinweg und glitzerte in der Sonne, die nun wieder hoch am Himmel stand. Eric blieb keine Zeit, sich darüber zu wundern. Viel eher hatte er nun das Gefühl, dass er und Carter definitiv nicht allein auf dem Feld gewesen waren. Der Dunkelhaarige fühlte sich beobachtet von etwas, was sich nun zwischen den beinahe mannshohen Halmen versteckte. Dieses Etwas warnte ihn davor, zurückzugehen. Es war, als würde eine Stimme leise flüstern, dass es eh schon zu spät war - Carter war nicht mehr zu retten.
Noch immer gab Eric die Hoffnung nicht auf. Doch anstatt sich wieder ins Feld zu wagen, entschloss er sich, in die Richtung der Kleinstadt zu gehen. Es musste einfach jemanden geben, der hier lebte. Warum sollte es hier sonst so viele Häuser geben?
Aus Angst, die Schatten aus dem Weizenfeld könnten ebenfalls ausbrechen und ihn mit sich zurück in die Dunkelheit zerren, wagte es Eric nicht, die Straße zu verlassen. Diesmal rannte er nicht. Dafür reichte seine Kraft nicht mehr. Mit jedem Schritt wurde er müder und am liebsten hätte er sich einfach nur hingelegt und auf den Tod gewartet. Wie Carter es vermutlich getan hatte. Die Stadt rückte immer näher, doch die Hoffnung schwand. Der Junge wollte einfach nur noch, dass alles aufhörte.
Wäre da nicht das Auto gewesen, das Eric fast überfahren hätte, hätte er sicher schon aufgegeben. Doch den Fahrer zu sehen, der aus dem Fahrzeug sprang und auf den Jungen zulief, um sich zu vergewissern, dass diesem nichts passiert war, war alles, was es gebraucht hatte, um ihm wieder Leben einzuhauchen.
»Was zum Teufel machst du hier, Kind? Sei froh, dass ich rechtzeitig gebremst habe, sonst wärst du jetzt Matsch.«
Als er diese Frage hörte, fühlte sich Eric, als würde er aus einem Albtraum erwachen. Er blinzelte und schaute sich um. Plötzlich war es nicht mehr still. Neben dem Wind, der ihn streichelte und dem Lärm der Stadt, den er mit sich trug, hörte der Junge klar und deutlich die Stimme dieses alten Mannes, der ihm klar machte, dass er nicht der letzte Mensch auf diesem Planeten war.
»Wie heißt du, Junge? Was machst du hier ganz allein mitten auf der Straße?«
Hinter sich hörte Eric eine Tür zufallen. Damit wurde er auch von allem abgeschnitten, was ihn erst hierhergeführt hatte - Carter, das Feld, die verzweifelte Suche nach dem Ausweg. Sogar die Erschöpfung hatte sich nun verzogen. Als wäre nie etwas passiert.
»Mein Name ist Eric. Ich glaube, ich habe mich verlaufen.«
»Wo wohnst du denn? Wenn es auf dem Weg liegt, kann ich dich sicher mitnehmen. Du scheinst immerhin schon eine Weile unterwegs zu sein. Möchtest du etwas trinken? Ich habe immer ein bisschen Wasser im Auto. Für Notfälle.«
Es dauerte eine Weile, bis der Junge sich an seine Adresse erinnern konnte. Die andere Frage ließ er vollkommen außer Acht. Im Moment konnte er sich kaum genug konzentrieren, um dem Fremden zuzuhören. Erics Kopf war unglaublich leer. Wo war er hier bloß gelandet?
Als der Dunkelhaarige seine Adresse nannte, erntete er nur ein Stirnrunzeln. »Bist du sicher, dass du nichts brauchst? Ich habe noch nie von diesem Ort gehört und wohne hier schon mein ganzes Leben. Wie lange bist du denn gelaufen?«
Eric konnte es nicht sagen. Auch das spielte keine Rolle. Vielleicht hatte er auch die falsche Adresse genannt, wer wusste das schon? Alles, woran er sich erinnern konnte war sein Name. Vielleicht war auch der falsch, aber das würde er wohl nie herausfinden.
»Ich kenne zwar keinen Ort, der so heißt«, versuchte es der Fremde weiter, »aber die Polizei kann dir vielleicht weiterhelfen. Ich bringe dich zu ihnen, okay? Dann wird alles wieder gut.«
Widerstandslos ließ Eric sich von dem Mann zum Auto führen. Im nächsten Moment schon sank er mit der Stirn gegen die Fensterscheibe und starrte hinaus auf das Weizenfeld. Es schien nahezu endlos zu sein. Der Junge fragte sich, ob er wohl das Ende sehen würde, sobald die Erntezeit vorbei wäre.
Bevor er sich weiter darüber wundern konnte, riss ihn das Geräusch des startenden Motors aus den Gedanken und er konzentrierte sich lieber auf den Mann am Steuer, der ihn nun in ein Gespräch über Alltäglichkeiten verwickelte, als wäre nichts gewesen.