Prompt 120: Kopflos
Es war das stetige Piepen, das sie letztendlich aufwachen ließ. Von einer Sekunde auf die andere verzog sich der schwarze Traum, den die junge Frau viel zu lange geträumt hatte, und machte karger, greller Helligkeit Platz. Es dauerte eine Weile, bis sich die Patientin bewusst wurde, wo sie war. Sie lag in einem fremden Bett, das in einem fremden Zimmer stand, umringt von etlichen Geräten, die sie unter gleichmäßig sonorem Protest am Leben erhalten hatten.
Wie war die junge Frau nur im Krankenhaus gelandet? Die Erinnerungen vor dem Aufwachen waren wie feiner Nebel, der sich einfach nicht greifen ließ, so sehr die Patientin es auch versuchte. Die Vergangenheit war dunkel und formlos. Ganz im Gegensatz zur Gegenwart, die alles überschattete.
Noch während die junge Frau versuchte, sich auch nur an einen Fetzen dessen zu erinnern, was außerhalb dieses Raumes geschah, öffnete sich die Tür. Plötzlich war die Stille gebrochen und es herrschte helle Aufregung. Es begann mit einer Krankenschwester, die gekommen war, um sich wie jeden Tag um eine komatöse Patientin zu kümmern und die nicht überraschter hätte sein können, dass da ein waches Mädchen saß und sie mit trüben, vollkommen verständnislosen Augen anstarrte. Als nächstes betrat eine ganze Armee an Ärzten das Zimmer und stellte allerlei Untersuchungen an. Sie huschten hin und her, waren gesichtslos und gingen, sobald sie die gewünschten Ergebnisse hatten, ohne sich groß um die Patientin zu kümmern, die immer noch vor einem großen, schwarzen Nichts stand, wann immer sie versuchte, sich zu erinnern, wie sie hierhergekommen war.
Erst der Mann ohne Kittel, der als Vorletzter kam und sich zu der jungen Frau ans Bett setzte, um mit ihr zu sprechen, brachte etwas Licht ins Dunkel. „Amnesia“, wie die Patientin scherzhaft vom Krankenhauspersonal genannt werden würde, wurde von den gerufenen Sanitätern bewusstlos auf dem Bürgersteig vor einem Apartmentkomplex aufgelesen und ins Krankenhaus gebracht. Man vermutete, dass das Mädchen ohne Identität zusammengebrochen war und konnte die schweren Verletzungen am Hals und im Buchbereich, die dafür verantwortlich waren, auf den ersten Blick ausmachen. Außerdem wurde festgehalten, dass der Anrufer einen lauten Streit meldete, den er am Rande mitbekam, bevor er die junge Frau allein aus dem Haus stolpern und nach einigen Schritten einfach zusammenbrechen sah. Später wurde in einer der Wohnungen die Leiche einer älteren Frau gefunden, die sofort mit Amnesias Fall in Verbindung gebracht wurde.
Das alles erzählte der Seelsorger seiner Patientin, als diese meinte, dass sie sich an nichts erinnern könnte. All das wirkte auf Amnesia, als würde der Therapeut einen Zeitungsartikel vorlesen oder die Handlung eines Films zusammenfassen. Es fühlte sich nicht an, als würde die erzählte Geschichte zu der jungen Frau gehören. Nichts kam ihr bekannt vor oder rief verdrängte Erinnerungen hervor, wie der Seelsorger sich erhofft hatte. So ging auch er irgendwann, ohne die gewünschte Ergebnisse erzielt zu haben.
Als letzte betraten zwei Polizisten den Raum. Auch sie wollten mit Amnesia reden. Wenn auch viel vorwurfsvoller als der Therapeut, der sich einzig und allein für die psychische Verfassung seiner Patientin nach ihrem langen Schlaf interessiert hatte. Für die Beamten stand hingegen ein Verbrechen im Vordergrund, das es nun aufzuklären galt, jetzt wo der Hauptzeuge wieder bei Bewusstsein war. Das Mädchen wurde angeklagt, für den Tod der aufgefundenen Frau verantwortlich zu sein. Ohne Erinnerungen konnte es jedoch weder bestätigen noch verneinen, dass es die Täterin war. Es frustrierte die Polizisten und erhärtete nur den Verdacht, dass Amnesia die Mörderin war. Sie musste diesen Gedächtnisverlust vortäuschen, um ihrer gerechten Strafe entkommen zu können.
Jedoch war das auch nur ein Verdacht. Immerhin glaubte der Therapeut, dass Amnesia wirklich keine Ahnung hatte, wer sie war und was sie vor ihrem Krankenhausaufenthalt getan hatte. Und ohne handfesten Beweis, dass das Mädchen nur alle an der Nase herumführte, kamen die Polizisten zu keinem Ergebnis.
Tag für Tag wechselten sich Therapeut und Polizisten ab und belagerten Amnesia regelrecht, um endlich mit den Ermittlungen voranzukommen. Nach einer Weile wurde das Bild etwas klarer: Bei der Ermordeten handelte es sich um Laurel Knight, eine alleinerziehende Mutter, die wegen Prostitution bereits polizeibekannt war. Schnell wurde demnach auch Amnesias Identität geklärt: Sie musste Roxy Knight sein, die Tochter Laurels, die laut Geburtsurkunde zur Tatzeit siebzehn Jahre alt gewesen sein musste. Doch auch die Offenbarung dieser Informationen ließ die Patientin vollkommen kalt. Wieder war es, als würde man ihr die Geschichte einer Fremden erzählen, die nicht das Geringste mit Amnesia zu tun hatte.
So zogen die Tage ins Land. Zwischen Therapiesitzungen, ärztlichen Untersuchungen und endlosen Verhören waren da nur die vagen Träume, die die junge Frau heimsuchten, sobald sie sich schlafen legte. Blass und wirr wurde in diesen eine Geschichte der eigenen Vergangenheit erzählt, doch sobald Amnesia erwachte, war alles verschwunden, was ihr Unterbewusstsein wieder hervorgeholt hatte. Jedes Mal, wenn sie genau das erklären wollte, wenn man sie fragte, warum sie keine Fortschritte mit ihren Erinnerungen machte, stieß sie auf taube Ohren. Je mehr Zeit verging, desto weniger glaubte man die seltsame Geschichte, die das Mädchen als wahr verkaufen wollte.
So landete Amnesia schließlich auf der Anklagebank. Ständig wurde die junge Frau bei einem Namen genannt, der ihr vollkommen fremd war und immer wieder warf man ihr schreckliche Dinge vor, die sie nicht getan hatte. Davon war sie weiterhin überzeugt, auch wenn sie kaum etwas über ihr altes Selbst wusste. Nur war es so, dass mittlerweile der ganze Gerichtssaal mehr über Amnesia wusste als sie selbst. Zumindest glaubte alle die Geschichte der blutrünstigen Muttermörderin, die die Staatsanwaltschaft erzählte, ohne mehr als Indizien für diese Behauptung zu haben. Es war kein fairer Prozess. Doch wie sollte man sich schon verteidigen, wenn man selbst nicht wusste, wer man eigentlich war? So saß Amnesia irgendwann einfach nur da, lauschte den den Anschuldigungen, die sie nicht glauben konnte und ließ sich schließlich widerstandslos zu lebenslänglicher Haft verurteilen.
Zu dumm, dass erst Jahre später Amnesias Gedächtnis wieder auf den Plan treten würde. Als einzige Tatverdächtige und dementsprechend laut Gesetz rechtmäßig verurteilte Täterin würde niemand mehr zuhören, was die Erinnerungen aus den Tiefen der Haftanstalt zu erzählen hatten.
Roxy, die seit sie sich erinnern konnte von ihrer Mutter an Freier regelrecht verkauft wurde, um wie diese zum Lebensunterhalt beizutragen, hatte nie einen Mord begangen. Stattdessen hatte es an diesem schicksalshaften Tag einen Streit zwischen dem Zuhälter und Laurel gegeben. Vermutlich war es wieder einmal um Geld gegangen, so wie jedes Mal, wenn der beleibte Mann Mitte vierzig einfach in die Wohnung der beiden Frauen eindrang und polterte, als würde ihm die Welt gehören. Der Streit war eskaliert. Wieder und wieder hatte der Mann auf Laurel eingeschlagen, bis diese sich irgendwann nicht mehr gerührt hatte. Roxy, die sie auf Anweisung ihrer Mutter in ihrem Zimmer versteckt hatte, hatte nicht mehr tatenlos zusehen können, was da geschah und war dazwischen gegangen. Auch sie hatte Schläge eingesteckt. In seiner blinden Wut hatte der Zuhälter das Mädchen sogar gewürgt. Doch es war seinen Klauen entkommen und war hinausgetaumelt, um Hilfe zu holen. Der letzte Gedanke, den Roxy vor ihrem Zusammenbruch hatte, war, dass sie ihrer Mutter helfen musste, bevor es zu spät war.
Doch nun saß sie hier, mit all ihren Erinnerungen und unschuldig bis an ihr Lebensende verurteilt, weil die Wahrheit wieder einmal viel zu spät aus der Dunkelheit hervorgebrochen war.