Prompt 20: Erlösung
»Die Welt ist ein schrecklicher Ort, Jacob«, waren ihre letzten Worte, als sie in ihrem Krankenbett starb. Er war dabei, als seine Mutter für immer die Augen schloss und für ihn sah sie aus, als wäre sie einfach nur friedlich eingeschlafen.
Im ersten Moment hatte der junge Mann gar nicht begreifen können, was da gerade in diesem kleinen, weißen Raum geschehen war, in dem die alte Frau ihre letzten Monate gefristet hatte. Dann war Jacob in Tränen ausgebrochen, jedoch nicht aus Trauer, sondern weil er so erleichtert war, dass seine Mutter endlich von ihrem qualvoll langsamem Tod und ihren Schmerzen erlöst war. Sie hatte endlich ihren Frieden gefunden. Etwas, was ein Monster wie diese Frau eigentlich nicht verdient hatte.
Jacob wusste, noch während er neben dem Leichnam saß und weinte, dass viele um sie trauern würden. Für die Menschen dort draußen war sie ein Engel. Sie sahen nur die aufopfernde Mutter, die sich rührend um ihren einzigen Sohn kümmerte. Die arme Frau, die von ihrem Mann für eine jüngere verlassen worden war und deren Eltern starben, als sie noch klein war. Und sie sahen die Lehrerin, die ihre Schüler stets unterstützte und für alle ein Lächeln übrig hatte, die ihr begegneten.
Doch was die Leute dort draußen nicht sahen, waren die Unterdrückung und Demütigungen, die Jacob tagtäglich ertrug. Sie begannen in dem Moment, wo er nach der Schule heimkam und hörten erst auf, wenn er wieder dort hin ging. Auch bemerkte nie jemand die Blutergüsse und die ständige Angst, die in dem Jungen tobte, wenn er nur daran dachte, nach Hause zu kommen.
Er hatte immer das Gefühl, dass seine Mutter ihn von ganzem Herzen hasste, weil er sie an seinen Vater erinnerte, dem sie es heimzahlen wollte, dass er nicht mehr da war. Doch neben den Tagen, an denen Mathilda ihren Sohn schlug und beschimpfte, gab es auch die, an denen sie ihn einfach nur bei sich wissen und ihm alles abnehmen wollte, was zu so etwas ähnlichem wie Unabhängigkeit geführt hätte. Seine Mutter war ein Kontrollfreak, der in jeden noch so kleinen Winkel seines Lebens eindrang und alles zerstörte, was Jacob zu einem echten Menschen gemacht hätte. Nur weil sie nicht loslassen wollte und konnte. Es gab für den Jungen kein Leben, das er sich hätte aufbauen können. Da war nur seine Mutter und dieser Hass, der Tag für Tag an Jacobs Seele zerrte.
Schließlich hat eine Chance gesehen, das alles zu beenden. Seine Mutter hatte Lungenkrebs und hätte es sowieso nicht mehr lange gemacht. Warum hätte Jacob also nicht etwas Rohrreiniger in den Tee kippen sollen, den er dieser Hexe jeden Tag ans Bett bringen sollte? Sie hat wahrscheinlich nicht einmal gemerkt, dass sie da pures Gift getrunken hat.
Was für Schmerzen seine Mutter doch in ihren letzten Momenten gehabt haben muss, dass sie Jacob noch bestätigten musste, wie grauenvoll die Welt doch war. Wer wusste das besser als er selbst? Er hatte kein Mitleid mit ihr. Immerhin konnten ein paar Sekunden voller Qualen kein ganzes verkorkstes Leben wieder aufwiegen.
Nun war es vorbei. Jacob konnte neu anfangen, jetzt wo seine Mutter endlich tot war. Doch aus irgendeinem Grund fühlte sich das Alles nicht nach Erlösung an. Eher so, als würde die Schuld ihn unter sich begraben, sobald der junge Mann von diesem Stuhl aufstehen und sich endgültig von seiner Mutter lösen würde.