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Er zuckte zusammen, als er den einen Flügel des alten Tores vor sich beiseite schob. Schnee rieselte dabei herunter, der zuvor auf dem Tor liegen geblieben war und gesellte sich somit zu der weißen Pracht auf dem Boden, die es nicht auf den schmalen Streifen rostbraunen Stahls geschafft hatte. Auch im Haar des jungen Mannes verfingen sich die Schneeflocken und sie durchnässten die dunklen Locken, bis sie leblos in seiner Stirn hingen und ihn zu einem begossenen Pudel mutieren ließen. Liam verfluchte sich dafür, dass er dem Wetterbericht heute morgen geglaubt und seine Winterjacke daheim gelassen hatte.
Nun stand er hier – frierend und nass bis auf die Knochen, weswegen er sich in den nächsten Tagen sicher erkälten würde. Wie sehr der Dunkelhaarige doch Schnee hasste, ebenso wie die Kälte und Blässe, die solch ein Winter mit sich brachte. Ginge es nach Liam würde der Sommer niemals enden, denn selbst unerträgliche Hitze war besser als alles, was mit Schnee oder anderen winterlichen Dingen zutun hatte.
Doch es ging nicht nach Liams Wünschen, deswegen stand er ja hier draußen und auf dem Grundstück dieses alten Anwesens. Er hatte einen Auftrag zu erledigen. Auch wenn er diesen gerade am liebsten sausen und zurück in sein warmes Heim kehren würde. Doch als Tatortreiniger hatte er keine andere Wahl – war die Polizei mit ihren Untersuchungen durch, musste Liam ran und die unschönen Überreste der Verbrechen beseitigen.
Noch während er das Tor allmählich hinter sich ließ und weiterhin missmutig durch den Schnee stampfte, fragte Liam sich, wer hier raus in die Einöde kam, nur um einen einsamen alten Mann zu ermorden. Sicher war es um Geld gegangen, denn das hatte der Verstorbene wie Heu gehabt, doch das hätte sich der Mörder auch gut und gerne in der Stadt holen können. Aber wer, der noch bei Verstand war, wurde schon schlau aus den Taten von Kriminellen?
Das Einzige, was Liam in diesem Moment wirklich beschäftigen sollte, war, ob er dieses riesige Anwesen, das er demnächst betreten würde, allein oder zusammen mit Kollegen reinigen musste. Letzeres wäre ihm lieber, so imposant wie dieses alte, düstere Gebäude inmitten des Winterwaldes wirkte, doch meist war der junge Mann beim Beseitigen der Blutflecken und des Leichenmiefs auf sich allein gestellt, egal wie groß die Häuser waren.
Als Liam schließlich direkt vor diesem Anwesen stand, wäre er am liebsten sofort wieder umgekehrt. Er konnte es nicht in Worte fassen, doch etwas an diesem Gebäude jagte ihm Angst ein und ließ ihn in Unbehagen versinken. Doch anstatt auf seinen Instinkt zu hören, schüttelte der Dunkelhaarige nur mit dem Kopf, um die Gedanken zu vertreiben, und holte den Schlüssel aus seiner Hosentasche. Diesen hatte er zuvor von seinem Arbeitgeber bekommen, weil man nicht erwarten konnte, dass man ein Haus, in dem vor kurzem erst ein Mord geschehen war, unabgeschlossen zurücklassen würde. Aber über das alles sollte Liam sich keine Gedanken machen. Weder um den Mord noch um irgendetwas anderes, was mit diesem Anwesen zutun hatte. Er sollte das alles lassen, wenn er sich nicht unnötig kaputt machen wollte bei diesem ohnehin schon echt fordernden Job.
Der junge Mann schloss auf, trat ein und stellte zuallererst seinen Rucksack auf dem Boden ab, der zuvor schwer wie Blei auf seinen Schultern gelastet hatte. Die Putzmittel würde Liam gleich noch auspacken – zuerst musste er sich mit dem Anwesen und dessen Seele vertraut machen, ehe der junge Mann in Ruhe seinem Auftrag nachgehen konnte. Das war eins dieser kleinen Rituale, die man sich so über die Jahre angewöhnt hatte, weil man mit sich selbst im Reinen bleiben und nicht als Eindringling in die Privatsphäre von Toten – wie ein gemeiner Grabschänder – sehen wollte.
Das Erste, was Liam entgegenschlug, war der abartige Geruch von Verwesung, der ihm sofort seinen Mundschutz aufziehen ließ. Der Tod in diesem Gemäuer nahm den Dunkelhaarigen beinahe den Atem. Dazu kam die erbitterte Kälte, die selbst den Schneesturm vor der Tür wie einen milden Frühlingstag erscheinen ließ. Liam traute sich nicht einmal, seine dünne Jacke auszuziehen, aus Furcht zu erfrieren. Er war froh, dass er bald aus diesem dunklen, unheimlichen Haus wieder hinauskonnte und zurück in die helle Realität, die den jungen Mann nicht in tiefes Unbehagen stürzte und ihm eine Gänsehaut am ganzen Körper verpasste, die ihn beinahe unter elektrische Spannung setzte.
Aus diesem Gefühl heraus schaute Liam sich viel sporadischer und kürzer als üblich um und begab sich dann direkt ins Schlafzimmer des Toten, in dem dieser auch ermordet worden war. Selbst im Dunklen konnte der Dunkelhaarige die eingetrockneten Blutflecken sehen, die so ziemlich überall im Raum prangten.
Die Leiche sollte regelrecht zerfetzt worden sein, wie Liams geschwätziger Vorgesetzter ihm mit einem morbid wirkenden Lächeln auf den Lippen erzählt hatte. So brutal, als hätte ihn ein wildes Tier gerissen. Diesen Tod hatte wirklich niemand verdient, egal was dem jungen Mann mitunter über den Verstorbenen zu Ohren gekommen war, der nicht nur hartherzig, sondern sogar ein Kriegsverbrecher gewesen sein sollte.
Gerade als der Dunkelhaarige mit der Reinigung des Tatorts beginnen wollte, wurde er von einer fremden und definitiv vorwurfsvoll klingenden Stimme unterbrochen.
»Was tust du in meinem Haus?«
Liam richtete sich erschrocken wieder auf und drehte sich zu dem Unbekannten um, um zu sehen, wer da außer ihm noch in diesem zuvor so still und verlassen wirkenden Haus war.
Dieser kurze Schreckmoment ließ den jungen Mann jedoch nicht seine guten Manieren vergessen, so vermied er, den Fremden so unverblümt zu mustern, wie er es eigentlich wollte, nahm den Mundschutz ab und setzte ein kleines Lächeln auf, um nicht mehr allzu bedrohlich auf den alten Mann zu wirken, der wirklich beunruhigt aussah.
»Guten Tag, Sir. Es besteht kein Grund zur Sorge, ich bin hierher bestellt worden, um den Tatort zu säubern. Wenn ich das erledigt habe, bin ich sofort wieder weg und lasse Sie allein.«
Damit wollte sich der Dunkelhaarige wieder seiner Arbeit widmen, doch der Fremde schien sich mit Liams Erklärung einfach nicht abfinden zu wollen.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich dieses Haus nicht verkaufen will, Robert. Nur weil du das schnelle Geld willst, kannst du nicht auf dieses Familienerbe spucken und mich ins Heim abschieben. Du hast hier nichts mehr zu suchen, solange du nicht ehren kannst, was deine Vorfahren sich hart erarbeitet haben. Verschwinde jetzt, ich will meine Ruhe vor dir und deinem Wahnsinn.«
Etwas fassungslos starrte Liam den Herren an, der immer noch wie angewurzelt im Türrahmen stand und ins Leere starrte. Der Dunkelhaarige wusste nicht, was er sagen sollte. Hatte dieser Mann Demenz, oder warum sprach er so wirres Zeug? So oder so, er hatte aus unerfindlichen Gründen Angst vor diesem Greisen, der zwar klein und wenig bedrohlich, jedoch zugleich unberechenbar wirkte. In seiner Anwesenheit steigerte sich Liams Unbehagen um ein Vielfaches, das schon davor kaum erträglich gewesen war.
Deshalb beschloss Liam, seinen Job hier aufzugeben, Verpflichtungen seinem Chef gegenüber hin oder her. Sollte der den Job doch selbst machen, wenn er sich beschweren sollte. Der junge Mann wusste nicht einmal, was ihn so einfach den senilen Bitten des Greisen nachgeben ließ, doch etwas sagte ihm, dass er hier wirklich nicht erwünscht war.
Er packte seine Utensilien zusammen, schulterte seinen Rucksack und schob sich dann mit einem kleinen Nicken an dem alten Mann vorbei. »Wenn Sie mich nicht im Haus haben wollen, werde ich Sie nicht weiter belästigen. Einen schönen Tag noch.«
Der alte Herr antwortete jedoch nicht mehr, sondern starrte wieder nur ins Leere. So nahm Liam erst recht die Beine in die Hand und machte, dass er schnell aus diesem Gemäuer rauskam. Sollte dieses denn nicht eigentlich verlassen sein? Der Verstorbene hatte allein dort gelebt und und auch nur einen bekannten Verwandten gehabt – einen Neffen, der auch mehrere Tage nach der Tat den Mord gemeldet hatte.
Noch auf seinem Weg durch den Schnee zu seinem Auto hin stockte Liam, als ihn die Erkenntnis wie ein Stein an der Schläfe traf. Hieß dieser Neffe nicht Robert? War der alte Mann vorhin vielleicht doch nicht so verwirrt wie der Tatortreiniger zunächst geglaubt hatte?
Ein markerschütternder Schrei, der eindeutig vom Anwesen aus zu Liams Ohren vordrang, gab seinen noch etwas wirren Gedanken lautstark Recht. Damit hatte der Dunkelhaarige wohl noch vor der Polizei herausgefunden, aus welchem Grund der steinreiche Besitzer des düsteren Einsiedlerheims mitten im Wald buchstäblich in der Luft zerrissen worden war. Nur dass er das eben von einem etwas ungewöhnlichen Zeugen erfahren hatte, der hautnah bei der Tat dabei war und diese wohl auch nie wieder vergessen würde können.