Prompt: Traumtänzer
Warnungen: Beschimpfungen, Freitod
Ein verträumtes Lächeln lag auf seinen Lippen. Die Arme leicht nach hinten vom Körper weg gestreckt, während er barfuß durch das vom Morgentau feuchte Gras ging. Der Schlaf stand ihm noch ins Gesicht geschrieben, aber seine Augen funkelten im warmen Licht der Morgensonne, die gerade erst ihr Antlitz am Horizont gezeigt hatte.
Es dauerte nicht lange und er ließ den weitläufigen Garten hinter sich. Bevor er seinen Weg fortsetzte, drehte er sich einmal um, verharrte und blickte zum Haus zurück. Sein Lächeln wich für einen Moment und Trauer machte sich in ihm breit. Der Glanz seiner Augen verging und mit einem Mal wirkten sie stumpf.
Erinnerungen brachen über ihn herein. Über die achtlosen Worte, die seine Eltern wieder und wieder ausgesprochen hatten. Nicht nur in letzter Zeit, sondern sein ganzes Leben lang. Worte, die ihn getroffen hatten, wie Steine und Messer. Worte, die Narben hinterlassen hatten. Nicht auf seinem Körper, aber auf seiner Seele.
Gestern Abend war es endgültig zu viel gewesen.
"Du bist ein Traumtänzer, Jakob! Ein Mann kann keine Ballerina werden! Ein Mann läuft nicht in diesen engen Hosen herum. Eine Schwuchtel tut das! Du bist nicht mein Sohn, wenn du weiter daran festhältst!"
Es waren noch weitere Worte gefallen. Seine Mutter hatte ebenso abfällig über seinen Lebenstraum gesprochen und am Ende war er wortlos aufgestanden und hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen. Die Türen zu seinen Räumen hatte er abgeschlossen, damit keiner der beiden ihm folgen konnte und dann hatte er sich an seinen Schreibtisch gesetzt.
Die ganze Nacht über hatte er aus dem Fenster hinauf zu den Sternen gestarrt und über sein Leben nachgedacht. Er hatte versucht seinen Traum wahr werden zu lassen, aber wann immer er seinem Ziel nahe kam, hatten seine Eltern die Grundsteine zerstört, die er sich gelegt hatte, weil sie wollten, dass er wie sein Vater wurde.
Ein kalter, gewissenloser Geschäftsmann.
Nur war er das nicht. Also hatte er im Laufe der Nacht beschlossen, dass er den Qualen, denen sie ihn immer wieder aussetzten, ein Ende zu setzen. Der Gedanke ließ ihn lächelnd im Sitzen einschlafen.
Als die blaue Stunde schließlich anbrach, erwachte er und sein Entschluss stand noch immer fest. Er schlüpfte in seine Trainingskleidung bestehend aus einem weißen Trikot, schwarzen Ballett-Leggins und Suspensorium. Seine Ballettschuhe hielt er für einen Moment in den Händen, bevor er sie auf sein Kopfkissen legte und sich dann aus dem Haus schlich.
Er schüttelte seinen Kopf und wandte sich vom Haus ab. Er wollte all das hinter sich lassen. Also setzte er sich wieder in Bewegung und genoss das Gefühl von Gras, Moos und feuchtem Tau unter seinen Fußsohlen.
Wenige Minuten später stand er an den Klippen.
Hier hatte ihm eines der Dienstmädchen einst gezeigt, wie man Ballett tanzt, und hier wo alles begonnen hatte, würde es enden.
Mit sicheren Schritten trat er an den Rand der Klippen. Einen Moment lang starrte er in die Ferne und wandte dem Abgrund den Rücken zu. Er schloss seine Augen und straffte sich. Für einen Moment stand er auf seinen Zehenspitzen und dann ließ er sich fallen.
Er fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben frei und er wehrte sich nicht, als die Wellen über ihm zusammenschlugen und seinen Körper in die Tiefe zogen.
Es war vorbei und vielleicht hatte er, der Traumtänzer, in seinem nächsten Leben die Gelegenheit zu werden, was er wollte. Vielleicht würde er dann in einer Zeit geboren, in der es akzeptiert wurde, dass auch ein Mann tanzen wollte, wie eine Prima-Ballerina.