Prompt: Ein Flackern im Wind
Warnung: Erwähnung von Familiärer Gewalt, Mord, Suizidgedanken, Suizid
Blind für alles andere um mich herum starre ich auf das kleine rote Grablicht.
Beinahe automatisch lasse ich mich im Schneidersitz auf den Boden sinken und fixiere meinen Blick auf das Licht.
Mal ist es da, mal nicht. Wie ein Flackern im Wind.
Ein leises Seufzen entwischt mir.
Achtzehn Jahre ist es her, dass Gott dich zu sich geholt hat.
Oder du dich zu Gott begeben hast.
Wir wissen immer noch nicht, ob es ein Unfall oder Absicht war.
Jedenfalls hattest du deinen Führerschein kaum, da fanden dich andere Autofahrer nachts auf der Landstraße. Dein Wagen war am einzigen Baum weit und breit zerschellt.
Ich erinnere mich noch genau wie die Polizei uns aus dem Bett geklingelt hat.
Zwei uniformierte Beamte.
Und dann war da diese Unterhaltung, die ich nie vergessen werde.
"Wohnt hier ein gewisser Marek Harloff?", wollte der ältere Beamte wissen.
"Was hat der Bengel jetzt schon wieder angestellt?"
Vaters Stimme klang so verärgert.
Mutter klammerte sich mit der einen Hand an seinen Arm, die andere hielt ihren Bademantel zusammen.
"Nichts, Herr Harloff. Er ist tot."
Der jüngere Beamte hatte diese Worte vollkommen emotionslos ausgesprochen.
Mutter brach weinend zusammen.
Vater hielt sie mit versteinertem Gesicht.
Und ich … ich stand oben an der Treppe von wo aus ich gelauscht hatte und das leere Gefühl, welches ich bereits beim Aufwachen hatte, bestätigte die Worte des Beamten.
Marek, mein Zwilling, war tot.
Ich strecke meinen Arm aus und meine Finger streichen die verwitterten Buchstaben und Zahlen auf dem marmornen Grabstein nach.
Marek Harloff
02.02.1984 - 02.02.2002
Das Schicksal nennt keine Gründe.
Wir waren gerade volljährig, da wurdest du aus dem Leben gerissen und nun ist dein Tod volljährig.
Und ich, dein Zwilling sitze hier und bin nun genau solange mit dir wie ohne dich auf dieser Erde. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe das auszuhalten. Mit dir ist die Hälfte meiner Seele gegangen. Seit der Beamte deinen Tod verkündet hat, habe ich kein Wort mehr gesprochen.
Ich habe es trotzdem geschafft mein Leben zu Leben.
Bis jetzt.
Ein vergilbter Briefumschlag ruht neben mir und ich hebe ihn auf. Unser Stiefvater hat ihn heute auf den Tisch gelegt, höhnisch gelacht und sich darüber amüsiert, dass du nun schon solange tot bist und ich ihm trotzdem immer noch hörig bin.
Was genau danach passiert ist, ist verschwommen. Aber es ist auch egal. Ich habe meinen eigenen Brief dabei. Einen Herzschlag lang starre ich den Umschlag in meiner Hand an, dann öffne ich ihn.
Der vertrocknete Kleberand gibt ohne Probleme nach und ich ziehe den Brief aus dem Umschlag.
Meine Hände zittern während ich das gelblich-weiße Papier auseinander falte.
Tränen füllen meine Augen.
Da auf dem Papier ist deine mir immer noch so vertraute Schrift.
Ich lese die Worte und höre dabei deine Stimme:
Tarek,
Er hat es wieder getan.
Ich halte das nicht mehr aus.
Ich bin nicht so stark wie du.
Lauf weg, wenn du kannst.
Mama kann und will uns nicht schützen.
Ich setze dem heute ein Ende.
Es tut mir Leid.
Marek
Ich schließe meine Augen.
Mechanisch falte ich den Brief zusammen und stecke ihn zurück in den Umschlag.
Ohne zu Zögern schiebe ich einen zweiten Brief dazu.
Es ist vorbei.
Heute hat er Mama umgebracht und ich habe ihn totgeschlagen.
Vermutlich werdet ihr sagen, ich sei weggelaufen.
Aber ich gehe nun endlich dahin, wo ich seit 18 Jahren hin will.
Ich werde wieder an Mareks Seite sein.
Begrabt mich mit ihm.
Tarek
Diese Worte habe ich geschrieben.
Ich ziehe ein Messer aus meiner Hosentasche, klappe es auf.
Mein Blick ist wieder auf das Grablicht fixiert.
Ein Schnitt.
Das Messer fällt klappernd auf die Pflastersteine.
Heiß rinnt mein Lebenssaft über meine kalte Hand.
Ich blicke in die Flamme solange ich kann.
Hinter dem Grabstein ist etwas. Wie ein Flackern im Wind.
Dann bist du da.
Du kniest vor mir.
Jung wie damals.
Grüne Augen, hellbraunes gestyltes Haar.
Deine Finger schieben sich zwischen meine.
Der Wind flüstert meinen Namen und dann ist es vorbei.
Einfach so.