Prompt: Zu neuen Ufern
Warnungen: Trauer, Depression, Suizidgedanken
"Und du bist dir sicher, dass du das willst?", höre ich meine Mutter fragen, während sie den Ordner durchblättert, den ich vor ihr platziert habe.
Langsam nicke ich.
"Ja, Mum. Ich bin absolut sicher. Ich mein, dafür hab ich so hart gearbeitet. Damit ich gute Noten habe und dann im Ausland studieren kann", erwidere ich und blicke derweil aus dem Fenster hinaus auf den Hof, auf dem ich als Kind immer gemeinsam mit meiner Zwillingsschwester gespielt habe.
"Du weißt, dass wir dich nicht besuchen können, mein Junge … wir haben nicht genug Geld für einen Flug in die USA", sagt meine Mum nach einer Weile der Stille.
Ich lächele leicht.
"Ich weiß, aber, Mum, ich muss zu neuen Ufern aufbrechen. Hier zu bleiben … hier zu studieren, jetzt wo Isla … nicht mehr da ist … das kann ich nicht. Ich muss meine Pläne ändern. Sonst folge ich ihr doch noch … es tut so schon weh genug jeden Tag ohne meine bessere Hälfte aufzuwachen."
Es fällt mir schwer diese Worte zu äußern, weil ich weiß, dass sie meine Mutter verletzen, aber das letzte dreiviertel Jahr war so unendlich schwer nachdem Isla bei diesem Unfall umgekommen ist. Aufzustehen und zu wissen, dass mich ihr strahlendes Lächeln nicht mehr erwartet; dass sie mir nicht meine Tasse Kakao stiehlt und ich im Gegenzug ihren Orangensaft austrinke; dass wir nicht Seite an Seite zur Schule gehen und den für uns stinkend langweiligen Unterricht durchstehen werden; dass wir nicht zusammen für Janne und Niilo kochen, wenn wir endlich daheim sind; dass wir nie wieder zusammen herumalbern werden; das alles bricht mir das Herz.
Reflexartig habe ich meine Augen geschlossen, damit mir keine Tränen über die Wangen laufen. Meine Mutter schluchzt leise auf und umarmt mich fest. Sie weiß, wie sehr mir Isla fehlt. Meine Schwester und ich sind immer ein Herz und eine Seele gewesen, auch wenn wir uns manchmal gestritten haben wie die Besenbinder. Sie zu verlieren war als wäre ich selbst gestorben.
Es hat Wochen gedauert, bis ich es nach ihrem Tod geschafft habe wieder unter Leute zu gehen. Alles hat mich an sie erinnert und mich in Tränen ausbrechen lassen. Es fällt mir immer noch unendlich schwer ihr nicht einfach in den Tod zu folgen. Ich brauche die Veränderung, sonst kann ich mich in meiner Trauer irgendwann nicht zurückhalten und allein der Gedanke macht mir Angst.
Ich will meiner Mutter nicht zumuten nach Isla noch ein Kind zu verlieren und ich will auch Janne und Niilo nicht noch einen solchen Verlust aufbürden. Zu gehen, zumindest für eine Weile, ist der einzige Ausweg den ich sehe.
"Okay, Levi. Aber du lässt den Kontakt nicht abbrechen, ja? Wir brauchen dich. Wir wollen dich nicht auch noch verlieren", flüstert meine Mutter mir ins Ohr. Sie akzeptiert meine Not und versucht mich nicht zu überreden meine Pläne zu ändern.
"Niemals, Mama", murmele ich rau zurück und drücke sie fest an mich. Sie ist eine unglaubliche Frau, die soviel gibt. Die nicht mit der Wimper zuckt, obwohl ihr ältester Sohn in wenigen Wochen tausende Kilometer entfernt am Massachusetts Institute of Technology studieren wird.
"Guter Junge", murmelt sie und meine Mundwinkel zucken zu einem Lächeln hoch.
"Danke, Mama. Ich weiß, dass es nicht einfach ist mich auch noch gehen zu lassen", beginne ich.
"… Isla hatte keine Chance, Levi. Sonst hätte ich diese Entscheidung nicht getroffen für sie. Du hingegen, du hast eine Chance. Nutze sie … für Isla und für dich. Mach euren Traum war. Ich weiß, dass ihr beide nur mir zu Liebe hier geblieben wärt. Lebe … und komm mich hin und wieder besuchen", unterbricht sie mich.
Ich nicke einfach nur, bin sprachlos.
Janne und Niilo werden es sicher schwerer nehmen, aber ich bin nicht allein, wenn ich diese Unterhaltung führen muss. Mama wird an meiner Seite sein und mir helfen. So wie sie es immer getan hat. Es fällt mir schwer zu neuen Ufern aufzubrechen und mein altes Leben, meine Familie hier zurück zulassen, aber gleichzeitig ist es ein befreiender Gedanke.
Nicht jeden Tag mit quälenden Erinnerungen an Isla konfrontiert zu sein wird mir gut tun. Ich werde sie nie vergessen, aber ich brauche Abstand von all den Erinnerungen. Ich muss lernen als Levi zu leben, weil Levi und Isla als Einheit nicht mehr existieren, und das kann ich hier nicht.
Ich halte die neben Isla wichtigste Frau in meinem Leben fest und lasse meinen Tränen freien Lauf. Es tut gut. Ich werde mein Leben hier vermissen, aber gleichzeitig habe ich die Chance zu entdecken, wer ich wirklich bin.
Mama lässt mich ohne Protest hinaus in die Welt ziehen, damit ich genau das tun kann.
Dafür werde ich ihr auf Immer und Ewig dankbar sein.