Tsukumogami (jap. 付喪神, gelegentlich auch 九十九神; zu deutsch "Artefakt-Geister") sind Wesen des japanischen Volksglaubens. Sie stellen eine besondere Gruppe der Yōkai dar: Es handelt sich um verschiedene beseelte Gebrauchs- und Alltagsgegenstände, die zu Yōkai werden und zum Leben erwachen sollen.
Etymologie und Geschichte
Das Wort つくも髪, das auch tsukumogami ausgesprochen wird, erscheint erstmalig in einem Waka (jap. 和歌 japanisches Gedicht) aus den Geschichten von Ise (Abschnitt 63) aus dem 9. Jahrhundert.
Bei dem Begriff handelt es sich um eine Zusammensetzung aus つくも tsukumo, dessen Bedeutung unbekannt ist, und 髪 kami "Haar". In dem Gedicht bezog es sich auf das weiße Haar einer alten Frau, daher wurde tsukumo als "alt" interpretiert, was oft metaphorisch als neunundneunzig Jahre dargestellt wird.
Das Element 髪 kami "Haar" ist ein Homophon von 神 kami "Geist"; in zusammengesetzten Wörtern können beide als -gami ausgesprochen werden. Daher bedeutet das Wort tsukumogami "99-jähriger Geist".
Die Kanji-Darstellung 付喪神 für tsukumogami in diesem Sinne geht auf ein Otogizōshi (jap. 御伽草子, wörtlich: "Unterhaltungsbuch", "Gesellige Bücher") aus der Tenpō- Zeit (23. Januar 1831 bis 8. Januar 1845) zurück, ein Emakimono (jap. 絵巻物; "Bilderalbum mit Kurzgeschichten") namens Tsukumogami Emaki. Diesem Emaki zufolge entwickelt ein Werkzeug nach 100 Jahren einen Geist (kami) und wird mit dieser Veränderung zu einem tsukumogami. Dieses Emaki trägt eine Beschriftung, die besagt, dass das Wort tsukumo auch mit dem Kanji 九十九 geschrieben werden könnte, was "neunundneunzig" (Jahre) bedeutet.
Abgesehen von diesen Verwendungen ist das Wort tsukumogami in der überlieferten Literatur dieser Zeit nicht belegt, und so ist die historische Verwendung des Begriffs selbst nicht im Detail überliefert. Das Konzept erscheint jedoch anderswo. In Sammlungen wie dem Konjaku Monogatarishū (jap. 今昔物語集, "Geschichtensammlung von Jetzt und Einst", häufig auch in der etwas kürzeren Form: Konjaku Monogatari) aus der späten Heian-Zeit (nach 1120 vor 1185) finden sich Geschichten von Gegenständen, die Geister besitzen, und im Emakimono Bakemono no e (化物之繪, "Illustrationen von übernatürlichen Kreaturen") aus der Edo-Zeit (1603 bis 1868) finden sich Geschichten von einem Chōshi (einem Sake-Serviertopf), einer Vogelscheuche und anderen unbelebten Gegenständen, die sich in Monster verwandeln. Das Wort tsukumogami selbst erscheint jedoch nicht. Ihre Blütezeit erleben die tsukumogami während der späten Edo-Zeit, wo ihr Arten- und Formenreichtum in rasender Radiation sich entwickelte.
Im Tsukumogami Emaki wird beschrieben, wie ein Gegenstand nach hundert Jahren von einem Geist bewohnt wird, weshalb die Menschen alte Gegenstände wegwarfen, bevor sie hundert Jahre alt wurden, was "susu-harai" (煤払い) genannt wurde. Auf diese Weise verhinderten sie, dass Gegenstände zu Tsukumogami wurden, aber den Bildunterschriften dieses Emaki zufolge steht, dass Gegenstände, die „ein Jahr vor hundert“ liegen, mit anderen Worten Gegenstände, die "tsukumo" (neunundneunzig) Jahre alt sind, wütend wurden und auf andere Weise als durch bloßes Verstreichen der Zeit zu einem Yōkai wurden und dann einen Aufruhr verursachten, weil sie wussten, dass man sich ihnen trotz treuer Dienste entledigen wollte.
Dazu sei gesagt, dass die Vorstellung, mit einhundert oder neunundneunzig Jahren ein Yōkai zu werden, nicht wörtlich genommen werden muss. Diese Zahlen können die Vorstellung darstellen, dass Menschen, Pflanzen, Tiere oder sogar Werkzeuge eine spirituelle Natur annehmen, wenn sie ein beträchtliches Alter erreichen, und dadurch die Kraft erlangen, sich selbst zu verändern. Tsukumo als 九十九 ("neunundneunzig") zu schreiben, bezieht sich nicht einfach auf eine Zahl, da das Wort seit alten Zeiten im weitesten Sinne "viele" verwendet wurde. Die abgebildeten Yōkai sind nicht solche, die die Kraft zur Selbstveränderung durch lange Verwendung erlangten, sondern solche, die kurz davor weggeworfen wurden und auf andere Weise zu Yōkai wurden.
Da der Begriff Tsukumogami in der japanischen Folklore auf verschiedene Konzepte angewendet wird, herrscht weiterhin Verwirrung darüber, was der Begriff eigentlich bedeutet.
Heute versteht man meist unter dem Begriff im Allgemeinen praktisch jedes Objekt, "das seinen 100. Geburtstag erreicht hat und somit lebendig und selbstbewusst geworden ist", obwohl diese Definition nicht unumstritten ist.
Dieses Werk geht einen Schritt weiter und geht davon aus, dass ein Tsukumogami ein Gegenstand ist, der zum Leben erwacht ist und für den Prozess im Regelfall bis zu seinem 100. Geburtstag warten muss. Dabei können aber auch Verwandlungen schon früher, aus verschiedenen Gründen auftreten.
Früher war es in Japan lange Zeit üblich, am 14. oder 15. Tag des ersten Monats ein spezielles Neujahrsfest für die Haushaltsgegenstände zu feiern und sie durch Opfergaben zu ehren, was die Ausbildung (bösartiger) Tsukumogami verhindern sollte. Dieser Brauch ist mittlerweile in Vergessenheit geraten, aber bis heute wird in Japan in jeder letzten
Dezember-Woche eine Art Fest namens Susuharai (jap. 煤払い, dt. "Staub vertreiben") abgehalten, welches bereits im 13. Jahrhundert praktiziert wurde. Im Verlauf der Festlichkeiten werden Häuser und Haushalt gesäubert und rituell gereinigt. Solche Praktiken sind vor allem bei älteren Japanern häufiger vertreten, hier werden alte oder kaputte Sachen (Möbel, Puppen, Musikinstrumente, Garderoben und mehr), welche durch neue ersetzt werden sollen, zunächst zu einem nahegelegenen Schrein gebracht um sie dort segnen zu lassen. Die dabei praktizierte formelle Zeremonie heißt Kuyo (jap. 供養). Erst nach der Kuyo werden die alten Sachen weitergegeben oder auf den Sperrmüll gebracht. Durch diese Praktik soll die Geburt (rachsüchtiger) Tsukumogami in den eigenen vier Wänden verhindert werden.
Eine andere Tradition, die an die Furcht vor Tsukumogami knüpfen mag, ist jene, zum Beispiel zerbrochene oder abgenutzte Stricknadeln in Tofuwürfel zu betten und sie würdevoll zu verabschieden; damit sie nicht wiederkehren und einen stechen.
Der Glaube an Tsukumogami und deren Wirken entspringt einer bestimmten Form des Buddhismus, dem Shingon-shū, ist aber auch im Shintōismus vertreten. Beide Religionen lehren, dass auch scheinbar tote Objekte jederzeit „belebt“ und verwandelt werden können, weil auch sie eine Seele besitzen. Der Glaube an die „beseelten“ natürlichen Objekte wurde spätestens im Verlauf des 14. Jahrhunderts auf von Menschen hergestellte Gegenstände (Artefakte) übertragen und verbreitete sich über ganz Japan.[10]
Merkmale
Sowohl der Buddhismus, insbesondere in der Form des Shingon-shū, als auch im Shintōismus ist die Annahme vertreten, dass auch leblosen Objekte eine Seele innewohnt. Diese scheinbar toten Objekte erlangen ebenso wie Menschen und einige Tiere, beziehungsweise die Seelen Verstorbener, mit dem Erreichen eines sehr hohen Alters übernatürliche, magische Fähigkeiten und können, wenn sie entsprechend geehrt und geachtet werden, als Kami (Geistwesen) in eine "andere Welt" wechseln. Ursprünglich galt dies nur für natürliche Objekte, aber seitdem 14. Jahrhundert wird diese Annahme auch auf menschen gemachte Objekte angewendet.
Zur Ausbildung des Tsukumogami-Daseins kommt es, wenn ein Gegenstand, nach langem Gebrauch nicht mit der ihm gebührenden Achtung entsorgt wurde oder anderweitig achtlos behandelt wurden. Dabei wird das Tsukumogami-Stadium für gewöhnlich am 100. Geburtstag (= Tag der Herstellung/Fertigstellung) erreicht.
Erst durch besondere shintōistische Rituale werden sie zu Gestaltwandelern, deren Blutlust vergleichbar mit Oni ist, auch ihre magischen Kräfte sind auf dem Niveau eines Oni.
Bestimmte Objekte bilden häufiger Tsukumogami aus, als andere. So sind vor allem Haushaltwaren, wie Laternen, Teekessel und Futons, aber auch Alltagsgegenstände, wie Uhren, Regenschirme, Besen, Kleidungsstücke und Musikinstrumente davon betroffen.
Auffallend ist dabei, dass selbst in der mordernen Folklore (Videospiele nicht als Folklore gezählt) nur handgefertigte Artefakte lebendig werden, welche ohne Elekzrität betrieben oder genutzt werden. Im Umkehrschluss scheint das Vorhandensein der Elekzrität eine Ausbildung einer stark magischen Seele entgegen zu wirken (oder es liegt dem Wunsch nach einer Rückkehr zu alten Traditionen und Werten zugrunde, wie er in Japan noch heute weit verbreitet ist).
Vorkommen
Tsukumogami sind in ganz Japan verbreitet, aber in alten Häusern häufiger anzutreffen.
Lebensweise
Für gewöhnlich werden Tsukumogami als harmlose Wesen mit kindlichem Charakter beschrieben, die durch ihre Umtriebigkeit lediglich um Aufmerksamkeit heischen und den Hausbesitzer daran erinnern wollen, dass dieser sich um den Hausstand und die darin befindlichen Artefakte kümmert. Demnach sind ihre Motivation Langeweile und Kummer.
Ihr Verhalten erinnert dabei an die aus den westlichen Kulturen bekannten Poltergeist-Aktivitäten.
Vielen Tsukumogami wird nachgesagt, dass sie im besten Falle einfach das Haus verlassen und weglaufen, wenn sie selbst, nachdem sie zum Leben erwacht sind, ignoriert werden.
Werden die Tsukumogami hingegen durch acht- und rücksichtslose Entsorgung erzeugt, können diese ihrem Besitzer nachstellen und wollen Rache üben. In ihnen hat sich durch die Entsorgung enorme Frustration angeschaut, was ihre Entstehung bewirkte. Weiter empfinden sie Neid gegenüber den Objekten, durch die sie ersetzt wurden. Diese Tsukumogami verursachen nicht selten große Verwüstungen in ihrem ehemaligen Heimathaus.
Viele Tsukumogami sollen sich gern mit andersgestaltigen Artefaktgeistern versammeln, um dann regelrechte Partys zu feiern.
Kulturelle Bedeutung
Mythologie
In den Tsukumogami ki (付喪神記, dt. "Aufzeichnung über Geister der Haushaltsgegenstände") aus der Muromachi-Zeit wird geschildert, wie sich die aus dem Haushalt achtlos entfernten Gegenstände versammeln und ihr Schicksal beraten. Die beratenden kommen zu dem Schluss, dass sie an den Menschen für die ihnen angetane Schmach Rache üben müssen. Hierfür wollen die Gegenstände die Hilfe eines shintōistischen Schöpfergottes in beseelte Wesen verwandeln lassen.
Nur ein Objekt spricht sich gegen den Plan aus, der buddhistische Rosenkranz, der predigt Feinseligkeit mit Güte zu beantworten.
Die Gegenstände unterziehen sich, wie abgesprochen, dem Shintō-Ritual und werden dadurch beseelte, rachsüchtige Tsukumogami. Sie nehmen unterschiedliche Formen an: Sie werden junge oder alte Männer oder Frauen, Tiere (wie zum Beispiel Füchse oder Wölfe), Dämonen oder Kobolde. Und jedes von ihnen so furchteinflößend, dass der Schrecken dahinter unaussprechlich war. Die beseelten Gegenstände siedeln sich dem Berg Funaoka an und überfallen von dort immer wieder die Hauptstadt und deren Umgebung, wo sie die Menschen und ihre Haustiere töten und ihre Opfer als Nahrung mit sich nehmen. Sie errichten eine Burg aus Fleisch und bauen einen Brunnen, aus dem Blut strömt. Sie reagieren auf alles Menschliche aggressiv und werden mit jeder Tat teuflischer und teuflischer.
Um ihrem Schrecken Einhalt zu gebieten, findet am kaiserlichen Hof schließlich ein buddhistisches Ritual statt, in dessen Folge "Göttliche Knaben", die Begleiter der "Schützer der Lehre", erscheinen und den Kampf gegen die Geister aufnehmen. Allerdings vernichten die Knaben die Geisterwesen nicht, sie nehmen ihnen stattdessen den Schwur ab, von
hrer Rache an den Menschen abzulassen und sich auf den Weg des Buddha zu machen. Als ehrbare Wesen halten die Geister ihren Eid und ziehen sich in entlegene Bergtäler zurück und erlangen schließlich nach ausgiebigen Studien alle Buddhaschaft.
Trivia
- In dem Manga Tsugumomo kämpfen Menschen zusammen mit Tsukumogami gegen Geister, die von Menschen Besitz ergreifen.
- Im Videospiel Tsukumogami (englische Titelversion: 99 Spirits), welches im feudalen Mittelalter Japans spielt, treten Tsukumogami auf, welche Gegner von den Protagonisten, jugendliche Dämonenjägern, sind.
- Diverse Pokémon und Yōkai aus Yo-Kai Watch basieren auf Tsukumogami.
Taxonomische Stellung
Es ist nicht gesichert, ob Tsukumogami innerhalb der Yōkai eine in sich abgeschlossene Verwandtschaftsgemeinschaft darstellen oder paraphyletischen Ursprungs sind, sodass die Ausbildung einer Tsukumogami-Form sich mehrfach innerhalb der Gegenstandsseelen voneinander unabhängig entwickelt hat.
Nachweise
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