Kapitel 5
Nani ging die Sache im Museum nicht aus dem Kopf. Nachdenklich saß sie vor ihrem Kaffee und stocherte mit der Gabel in den Kuchenresten auf dem Teller vor ihr. Dieser Elmer. Sie hatte das Gefühl ihn zu kennen, wusste aber nicht, wo sie ihn einordnen sollte. Und dann Angie - was war mit ihr los gewesen? So kannte sie ihre Freundin überhaupt nicht. So einen hasserfüllten Blick hatte sie bei ihr noch nie gesehen. Es war ein ganz merkwürdiger Tag gewesen.
Nani räumte den Tisch ab und setzte sich ins Wohnzimmer, um sich vor dem Fernseher ein wenig abzulenken. Aber sie kam heute nicht aus dem Kopf. Immer wieder musste sie an die Ereignisse des Tages denken. Sie schaltete den Fernseher ab und setzte sich vor ihren Computer. Doch auch das war nicht das Richtige. Sie war einfach noch zu aufgewühlt. Sie musste einfach erst einmal wieder "runterkommen". Dann kam Nani die Idee eine Meditation zu machen. Eine Kerze wurde entzündet. Sie holte sich ihr Meditationskissen und liess sich darauf nieder. Mit ihrem Po hin und her wackelnd, schmiegte sich sie so lange auf dem Kissen ein, bis sie die richtige Position gefunden hatte.
Sie breitete die Arme weit offen aus und führte sie dann ganz langsam zum Körper zurück und legte ihre Hände zunächst auf der Brust ab. Danach legte sie die Hände für einen Moment in ihren Schoss, um sie kurz darauf zu einer Mudrahaltung zu formen. Nani atmete ein paar Mal tief ein und aus. Ihr Oberkörper war kerzengerade und bildete einen perfekten rechten Winkel zu ihrem Unterkörper. Der Kopf war ein ganz klein wenig zur Brust geneigt. Die erste Stufe war erreicht, jetzt folgten die Bilder. So war es immer. Alle möglichen Bilder gingen ihr durch den Kopf. Sie hatte gelernt, sie einfach vorbei ziehen zu lassen, sie nicht zu bewerten und keine Fragen zu stellen.
Doch an einem Bild blieb sie heute Abend immer wieder hängen. Sie konnte sich nicht erklären, warum es immer wieder kam. Sie liess es ziehen und wollte es loslassen, doch kurz darauf war es wieder da. Es war anders, als sonst in ihren Meditationen. Nani war etwas verunsichert deswegen. Da war es schon wieder! Es war..... ein Auge. O.K. dachte Nani, ich lasse mich drauf ein. Sie konzentrierte sich auf das innere Bild und versuchte, dieses Auge genauer zu fokussieren. Ihr fiel auf, dass die Farbe des Auges zu wechseln schien. Es war zuerst blau, dann wechselte die Farbe in ein giftiges Grün, danach in Dunkelbraun, bis zuletzt ein tiefes Schwarz daraus wurde.
Nani hatte den Eindruck, eine unglaubliche Tiefe in diesem schwarzen Auge zu spüren. Und plötzlich verspürte sie Kontakt! Etwas in dieser Tiefe schien sie irgendwie anzuziehen. Sie hatte das Gefühl, in dieses Auge hinein gezogen zu werden. Ein ungutes Gefühl nahm Besitz von ihr. Sie wollte abbrechen. Doch das Auge liess sie nicht mehr weg. Sie wurde förmlich hinein gesogen. Sie spürte den Sitz unter sich nicht mehr. Wie schwebend glitt sie scheinbar in eine andere Dimension, eine andere Welt, ein anderes Leben.....
Sie versuchte sich dagegen zu wehren - aber vergeblich - immer weiter zog diese unsichtbare Kraft sie in eine andere Welt. Etwa eine Minute verging, dann war sie "angekommen". Nani hatte absolut keine Ahnung wo sie hier war. Auf dem Kissen in ihrer Wohnung sass sie mit geschlossenen Augen. In der anderen Welt hatte sie sie geöffnet. Was sie sah, liess sie staunen. Es war......
Atlantis!
Nur wusste Nani dies in diesem Moment noch nicht. Sie ging die kleine Anhöhe hinab auf der sie stand und bewegte sich auf die unter ihr liegende Stadt zu. Felder waren hier angelegt und hier und da sah sie Menschen, die hier ihre Arbeit verrichteten. Nani ging langsam auf sie zu. Sie hatte einen hoch gewachsenen Mann auserkoren und wollte ihn ansprechen. Er war ihr zugewand und kam gerade aus der Hocke hoch. Nani sah den großgewachsenen, breitschultrigen Mann direkt an und rang sich ein leichtes, unsicheres Lächeln ab. Doch die Miene des Mannes blieb völlig unbeeindruckt. Sie hob ihre Hand zum Gruß und ein zittriges "Hallo" verliess ihre Lippen. Keine Reaktion!
Der Mann drehte sich halb weg und Nani ging auf ihn zu. Verdammt, er musste sie doch gesehen haben, dachte sie. Nani bewegte sich zwei Schritte auf ihn zu und griff spontan nach seinem Arm. Als sie zugriff, fasste sie ins Leere! Sie sprach ihn direkt an - keine Reaktion! Er sah sie nicht und er hörte sie nicht!Verdammt, was war das denn? Nani war nun umso mehr verunsichert, da sie Geräusche wahrnahm. Sie hörte das Streichen des Windes über die Felder, die Schritte des Mannes, der sie nicht hörte und aus der Ferne glaubte sie etwas vom Treiben aus der Stadt mitbekommen zu haben. Der Mann schulterte eine kleine Hacke und verliess das Feld. Nani sah ihm nach und ihr fiel die Kopfbedeckung und die lendenschurzartige Kleidung des Mannes auf. Irgendwie erinnerte es sie an Bilder aus dem alten Ägypten. Die Kopfbedeckung aus rotem Tuch hing bis auf seine breiten Schultern herunter.
Nani sah auf die Stadt. Sie war ringförmig angeordnet und wurde von mehreren kleinen Kanälen durchzogen. Sie beschloss sich alles näher anzusehen und bewegte sich in Richtung des Ortes. Die Stadt musste sich in der Nähe eines grösseren Gewässers oder eines Meeres befinden, denn sie sah mehrere große Schiffe vor Anker liegen. Beim näheren Herangehen bemerkte sie, dass einige der Schiffe bereits abgelegt hatten. Ein breiterer Hauptkanal führte zwischen zwei Bergen hindurch und scheinbar aufs offene Meer. Je näher sie kam, desto lauter wurde es. Sie stutzte. Das waren keine normalen Stadtgeräusche. Hier stimmte etwas nicht! Nun sah sie, dass die Menschen meist hektisch oder gar panisch durch die Stadt rannten. Manche gestikulierten wild mit den Händen und trieben sich gegenseitig zur Eile an. Was war hier los?
In der Mitte der Stadt hatte sie ein kuppelartiges Bauwerk bemerkt. Die halbrunde Kuppel schimmerte seltsam. War sie aus Gold? Nani passierte ein turmartiges Gebilde, auf dessen Spitze sich ebenfalls ein kuppelartiges Dach befand, jedoch wesentlich kleiner, als das Gebäude im Stadtkern. Sie sah mehrere von diesen Türmen, die rings um die Stadt verteilt standen. Plötzlich nahm Nani ein metallisch klingendes Geräusch war und hielt inne. Sie sah zu dem Turm hinauf und sah, wie sich die Kuppel heruntersenkte und etwas freigab, dass aussah wie ein Kristall. Beim Blick hinunter bemerkte sie, dass nun alle Kuppeln auf den Türmen zurück gefahren wurden. Ein seltsames Licht verliess die Türme und legte sich wie ein Schutzschild über die Stadt.
Nani war ein gutes Stück weiter gegangen und der Lärm war mittlerweile deutlich angeschwollen. Sie sah, dass die vor Anker liegenden Schiffe eiligst beladen wurden und die Menschen scheinbar all ihr Hab und Gut darauf verstauten. Sie stand nun in der Nähe der Ankerplätze bei den Schiffen mitten in einem ohrenbetäubenden Lärm und sah sich die Leute an. Ein Mann kam auf sie zu gerannt und drohte sie in seiner Panik umzuwerfen. Nani wollte ausweichen - doch zu spät! Abwehrend riss sie ihre Hände hoch, doch es passierte nichts. Der Mann lief einfach durch Nani hindurch! Sie hatte es völlig vergessen. Erschrocken verliess sie ihren Platz und gung weiter in die Stadt hinein.
Kurz vor dem kuppelartigen Gebäude sah sie eine grosse Menschenmenge. Die Leute standen auf einem grossen Platz und hörten einem Mann zu, der auf einem erhöhten Podest zu ihnen sprach. Nani verstand die Sprache nicht, aber sie hatte den Eindruck, dass es sehr schlimme Dinge waren, die seine Lippen verliessen. Die Gesichter der umstehenden Menschen waren von Schock und Entsetzen geprägt. Wild gestikulierend sprach der Mann weiter, als plötzlich ein Pfeiffton einsetzte, der schnell immer intensiver wurde und die umher stehenden Menschen in allergrösste Panik versetzten. Wild stoben sie auseinander und ergriffen die Flucht. Nani sah wie sich das Licht, dass aus der Hauptkuppel drang veränderte. Auch das Licht, welches wie ein Schutz über der Stadt gelegen hatte, veränderte sich.
Und dann geschah es.....
Nani wurde plötzlich empor gehoben und sah die ganze Szene aus der Vogelperspektive. Sie sah, wie sich über der Hauptkuppel eine dicke Säule aus silbern schimmerndem Licht bildete, die schnell immer grösser wurde und sich zu verdichten schien. Mit einem dumpfen Brummton fiel diese Lichtsäule plötzlich in sich zusammen. Kurz vor Erreichen des Erdbodens explodierte alles mit einem unvorstellbar lauten Knall. Ein riesige Druckwelle entstand, die alles im Umkreis von etwa 50 Kilometern wegfegte wie welkes Laub. Fassungslos verfolgte Nani die Szene mit weit aufgerissenem Mund. Die Druckwelle schien gerade auszulaufen, als sich der gesamte Erdboden plötzlich sehr stark hob und senkte. Selbst aus ihrer weit erhöhten Position konnte Nani die Erdbebenwellen sehr deutlich erkennen. Das Beben dauerte etwa 20 Sekunden lang, danach öffnete sich der Erdboden und das ganze Land versank mit einem unvorstellbaren Getöse in dem gierigen, tödlichen Schlund einer wütenden Erde. Von überall her strömten riesige Wassermassen in das entstandene Loch und kurz darauf sah man nur noch das Meer. Riesige Tsunamiwellen machten sich auf den Weg und sollten andernorts gewaltige Schäden anrichten. Weit draussen auf den Meer entdeckte Nani noch einige Schiffes dieses Volkes, aber die meisten von ihnen hatten es nicht geschafft. Atlantis war durch eine gewaltige Explosion untergegangen. Nichts war mehr übrig!
Dann wurden die Bilder plötzlich verschwommen und dunkeler. Nani schien auf dem Rückweg zu sein. Kurz darauf blickte sie in das Auge. Sie nahm den Sitz unter sich wieder wahr und bemerkte, dass sie sich völlig in den Stoff verkrallt hatte. Sie kam wieder bei sich an und öffnete kurz darauf ihre Augen. Beruhigt stellte Nani fest, dass sie sich wieder in ihrer Wohnung befand. Diese Meditation würde sie niemals vergessen....