Kapitel 18
Die junge Frau war auf dem Weg zum Gizeh-Plateau. Der schwarze SUV hatte sie am Kairo-Airport abgeholt und sollte sie direkt zum abgesperrten Bereich bringen, auf dem Alexander Solomon seit einigen Stunden wieder tätig war. Der Fahrer des Wagens blickte die junge Frau im Rückspiegel permanent an. Sie war hübsch. Er hatte sie im Ankunftsbereich des Flughafens aufgenommen, ihr den kleinen Koffer abgenommen und in den Kofferraum gepackt. Mehrfach hatte er versucht, irgendwie mit ihr ins Gespräch zu kommen, doch sie hatte abgeblockt. All seine Tricks und Erfahrung hatten ihm nichts genützt. Auch seine charmantesten Versuche scheiterten.
Sie schien ihm irgendwie abwesend, als wenn sie permanent an etwas ganz Wichtiges denken würde. Je intensiver er sie ansah, desto mehr gewann er den Eindruck, dass sie nicht ganz bei sich war. Dieser Augenausdruck.... Eigentlich war es überhaupt kein Ausdruck. Sie war wie nach Innen weggetreten. Der Fahrer beschloss, sie einfach in Ruhe zu lassen und wandte seinen Blick ab. Wer weiss, was mit dem Mädel los ist, dachte er. Kurz darauf bogen sie in die Strasse ein, von der die Zufahrt zum Gelände abging. Ein beklemmendes Gefühl bemächtigte sich des Mannes. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, wo es her kam. Es war so stark, dass Panik in ihm aufstieg. Was war das? Woher kam es?
Sein Blick fiel noch einmal auf den Rückspiegel. Entsetzt sah er in ihr Gesicht. Sie war es! Sie blickte ihn direkt an mit ihren schwarzen Augen, die ihm so gross wie Tennisbälle vorkamen. Etwas kam heraus aus ihren Augen! Er konnte sich nicht davor verschliessen. Sie schoss etwas auf ihn ab! Er konnte seinen Blick nicht mehr abwenden. Sie hatte ihn! Er war ihr Gefangener...
Sie hielten am Tor an und der Fahrer senkte die Scheibe der Fahrertür ab. Der Sicherheitsbeamte kam auf ihn zu und fragte nach den Papieren. Der Fahrer sah ihn nur an. Der Sicherheitsbeamte sah in ein schwarzes Augenpaar, bedankte sich, drehte sich um und öffnete das Tor. Wortlos und mit unbewegter Mine fuhr der Mann die Scheibe wieder hoch. Ein leichtes, wissendes Lächeln schien über das Gesicht der Frau auf dem Rücksitz zu huschen. Sie war zufrieden. Ihr Plan schien aufzugehen und ihre gestellte Aufgabe würde sie meistern. Der SUV rollte langsam auf das Gelände und hielt dann an. Der Fahrer öffnete seine Tür, glitt von seinem Sitz herunter und öffnete der hinten sitzenden jungen Frau die Tür. Er zog die Tür weit auf bis zum Anschlag und hielt sie fest. Sein Blick war dabei auf den Boden gerichtet. Die junge Frau stieg aus und verharrte.
Erinnerungsfetzen schossen ihr durch den Kopf. Bilder. Namen. Das Löwenpaar, welches sie mit ihrer Gedankenkraft befehligte. Sie sog die Luft gierig und tief durch die Nase ein, als wenn sie ihr eine besondere Nahrung oder eine besondere Kraft verleihen würde. Wie eine Königin schritt sie erhobenen Hauptes einher und bewegte sich auf die Vorderpranke der Sphinx zu, die durch das Zelt abgedeckt war. Es gefiel ihr sehr gut hier. Es roch nach Macht. Nach sehr grosser Macht!
Solomons Funkgerät schlug an. "Ja?", meldete er sich unwirsch. "Sie ist da!", kam es salbungsvoll von oben. "Oh jetzt schon! - das ist gut, schick sie sofort zu mir herunter", antwortete Solomon. Die junge Frau setzte ihren Weg unbeirrt in Richtung Treppe fort. Einer der Männer wollte den Fahrer zurück halten, als er der Frau folgte. Die junge Frau stoppte kurz vor der Treppe und drehte sich zu Solomons Mitarbeiter um. Sie blickte ihn nur kurz an. Der Mann hob daraufhin beschwichtigend seine Arme und sagte nur "Ok - Ok"! Die junge Frau hatte kein einziges Wort gesagt, aber etwas in ihren Blick schien ihn eingeschüchtert zu haben. Sie setzte ihren Weg fort und stieg in den Treppenschacht ein. Der Fahrer trottete wie eine Marionette hinter ihr her.
Solomon und seine Männer waren schon wieder ein gutes Stück weiter voran gekommen, aber er mahnte sie immer wieder zur Vorsicht. Es konnten noch weitere Fallen hier eingebaut sein und wenn zwanzig Meter nichts passiert war, wurde die Gefahr grösser, wieder etwas unvorsichtiger und nachlässiger zu werden. Er hatte sich an den Schluss der 4er-Kolonne begeben und die jüngeren Männer und dann Bud McIntosh vorgelassen. Die Männer vorne hatten gestoppt. Eine Inschrift war zu sehen. Vorsichtig lehnte sich einer der Männer nach vorne, um sie anzuschauen. Was hatte es zu bedeuten? Leider waren sie alle der alten ägyptischen Sprache nicht mächtig. Sollten sie einfach hier weitergehen? Die Spannung stieg. Auch Solomon beugte sich etwas nach vorne, um die Inschrift besser sehen zu können. Er glaubte ein Auge zu erkennen. Es war gut erhalten. Nach so langer Zeit.
Plötzlich liess ihn etwas erschrocken zusammen zucken! Eine Hand! Sie lag auf seiner Schulter und schien ihn zurückhalten zu wollen. Zitternd drehte er sich um und blickte in ein dunkles Augenpaar. Angie! Sie stand hinter ihm. Er hatte nichts gehört. Absolut nichts. "Hach!", entliess er einen Seufzer der Erleichterung, "Du vermagst immer noch wie eine Schlange zu schleichen, Nanchi!" Ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht und ersetzte langsam den Schrecken, der seine Gesichtszüge noch vor zwei Sekunden zierte. Die junge Frau zeigte keinerlei Veränderung in ihrer Mimik. Inzwischen hatten auch die anderen drei Männer bemerkt, dass Verstärkung eingetroffen war. "Ihr dürft hier nicht weiter gehen", sagte sie in scharfem Tonfall. "Tretet zurück ihr Narren! Habt ihr geglaubt, ihr könnt hier einfach so hereinspazieren?" Alle Männer begaben sich hinter die neu dazu gestossene Frau. Angie trat etwas vor. Sie betrachtete das Siegel und berührte es vorsichtig mit ihren Fingerspitzen. Fast schon zärtlich strich sie durch die Vertiefungen und sah es versonnen und liebevoll an. Ein wissendes Lächeln überflog ihr Gesicht.
Staub hatte sich angesammelt. Angie bliess ihn vorsichtig weg. Sie sah zur anderen Seite der Wand hinüber. Dort befand sich ebenfalls ein Siegel. Es war das Gegenstück. Sie ging hinüber und bliess auch hier vorsichtig den Staub aus den Rillen. Wie auf ein Kommando kam der Fahrer des SUV zu ihr nach vorne und stellte sich an die linke Seite des Ganges. Angie stellte sich an die rechte Wandseite. Sie hoben ihre Hände und fassten sich in der Mitte an. Die freie Hand berührte jeweils die Wand. Angie öffnete leicht ihren Mund und entliess murmelnd eine Reihe von sehr alten Worten in den Gang. Von den Männern verstand sie keiner, was sie jedoch alle gemeinsam wahrnahmen war eine starke Spannung, die sich hier aufbaute. Zuerst kaum wahrnehmbar veränderte sich die Farbe der beiden Siegel an der Wand. Der beigefarbene Ton des Sandsteins nahm eine leichte bläuliche Tönung an und begann zu floureszieren. Mit starrem Blick schaute Angie auf die etliche Meter vor ihr liegende Wand. Ihre Augen waren weit geöffnet. Plötzlich drehten ihre Pupillen sich komplett nach hinten. Das bläuliche Leuchten ging auf ihre Augäpfel über. Ein Brummton setzte ein, um nach drei Sekunden wieder zu verstummen.
Die Spannung entlud sich in einem kurzen blauen Blitz, der aus den beiden Siegeln an den Wänden herausschoss. Angie liess die Hand des Fahrers los und nahm auch ihre andere Hand von der Wand herunter. Der Fahrer tat es ihr gleich. Ihre Augen sahen wieder normal aus. "Jetzt können wir weiter gehen", sagte Angie zu Solomon, "es ist jetzt sicher." Langsam schoben sich die sechs Personen weiter vor in Richtung der Wand. Bud McIntosh wunderte sich. Es war nichts an der Wand zu sehen, das auf einen Eingang schliessen lies. Aber Al würde schon wissen, weshalb er diese merkwürdige Frau dazu geholt hatte. Er tat nichts umsonst und sie hatte bestimmt eine ganz spezielle Aufgabe hier. Sie war merkwürdig. Bud hatte den Endruck, als wäre sie nicht sie selbst. Auch wie sie sich bewegte. Für Bud sah es aus wie ferngesteuert. Dann war die Wand erreicht. Mit ihren Stablampen und den kleinen Lampen an ihren Köpfen beleuchteten die Männer jede Fuge in den Steinen, fühlten alles ab und suchten fieberhaft nach irgendwelchen Hinweisen, die auf einen Mechanismus hindeuten könnten, der den Eingang frei legte.
Angie liess sie noch eine Weile gewähren. Dann schritt sie nach vorne und beorderte die Männer mit einer herrischen Handbewegung zurück. Alle hatten die Wand abgetastet, sogar den Boden abgesucht, die Seitenwände untersucht,..... aber keiner von ihnen hatte sich um die Decke gekümmert. Die junge Frau stellte sich in etwa einem Meter Abstand vor die Wand. Sie schloss ihre Augen. Zischelnde Laute in einer fremden Sprache kamen aus ihrem Mund. Worte, die hier lange nicht mehr gesprochen worden waren. Doch heute sollte die Tür zur Kammer wieder geöffnet werden. Mit geschlossenen Augen führte sie ihre Hände zur Decke. Sie liess sie an zwei bestimmten Punkte der Deckenkonstruktion ruhen. Es gab ein leises Geräusch, dass sich wie ein knirschendes Getriebe anhörte. Ein etwa einen Meter zwanzig breites Stück der Wand schwang wie eine Tür nach innen zurück. Die Männer bekamen den Mund nicht mehr zu. Angie nahm die Hände herunter und wies mit einer einladenden Handbewegung in die Halle.
Sechs Stablampen beleuchteten mit zuckenden Strahlen eine Halle, die seit tausenden von Jahren von keinem Mensch mehr betreten worden war.
So hatte es den Anschein.....