Kapitel 8
Ultied hatte sehr unruhig geschlafen. Mehrfach war er in dieser Nacht aufgewacht. Der Tag der Reinigung, des letzten großen inneren Kampfes stand bevor. Er war gut vorbereitet und konnte den bevor stehenden drei Tagen im Sarkophag eigentlich gelassen entgegen sehen. Doch das war es nicht, was ihn beunruhigte. Er hatte Veränderungen bemerkt. Schon seit Wochen waren ihm die Spannungen zwischen seiner Frau und ihrer Schwester aufgefallen.
Nanchi-ankh-sun war glücklich in ihrer Position als Isispriesterin. Sie hatte über die Jahre ein sehr freundschaftliches Verhältnis zur obersten Isis-Hohepriesterin aufgebaut. Nanchi-ankh-sun respektierte sie und bewunderte ihr grosses Wissen. Sie war einfach zufrieden mit ihrer Funktion und ihrer Position. Sie wollte nie ganz oben stehen und liebte es, in der "2. Reihe" zu stehen. Gerne arbeitete sie der Hohepriesterin zu und gönnte ihr den Erfolg den sie hatte von Herzen. Sie genoss grosses Ansehen bei den Menschen und beim Pharao.
Warum ihre Schwester Anchor-ankh-sun mit Macht alles daran setzte, die Prüfungen für das Amt der Hohepriesterin zu absolvieren und so die Voraussetzungen für die Übernahme dieses Amtes zu erfüllen, konnte Nanchi-ankh-sun nur erahnen. Sie durfte in diesem Amt als Hohepriesterin mit keinem Mann zusammen sein. Nanchi wusste, dass Anchor-ankh-sun den Männern sehr zugetan war - besonders einem Hauptmann aus der Leibgarde des Pharao. Nanchi-ankh-sun wusste, dass sie sich mit ihm heimlich traf.
Die jetzige Hohepriesterin Naphtali erfreute sich bester Gesundheit und es bestand eigentlich keine Notwendigkeit dazu, eine neue Hohepriesterin vorzubereiten und die Einweihungsriten durchlaufen zu lassen. Nanchi-ankh-sun hatte ihre Schwester Anchor freundlich darauf hin angesprochen, um etwas über ihre Beweggründe zu erfahren. Anchor-ankh-sun jedoch hatte ihr auf recht abweisende Art geantwortet. Sie meinte, dass sich in Kürze hier sehr viel verändern würde und dass ihr dies in mehreren Visionen offenbart worden wäre. Auf Nachfrage von Nanchi antwortete sie nur barsch, dass sie nicht darüber sprechen dürfe, da ansonsten die Verbindung zu ihrer "Quelle" abreissen würde.
Nanchi hatte ihrem Mann Ultied davon berichtet, der sich die Geschichte mit besorgter Mine angehört hatte. Was konnte dahinter stecken und vor allem, wer konnte dahinter stecken? Ultied machte sich Gedanken darüber, wo er den Ring lassen sollte während seiner dreitägigen "Abwesenheit". Sein Vater hatte den ersten Ring aus seiner tiefen Freundschaft und seiner Verbundenheit heraus dem Pharao zum Geschenk gemacht. Er trug ihn Tag und Nacht. Der Ring hatte ihn noch mächtiger gemacht und er hatte den Beinamen "der die Steine schweben lässt" bekommen. Dies wiederum war dem Pharao nicht wirklich ein Grund zur Freude, denn er wusste nur zu gut, dass solche mächtigen Werkzeuge auch viele Neider anziehen konnten.....
Ultied musste sich ein sehr gutes Versteck überlegen, in das er den 2. Ring für die drei Tage seiner Reise geben konnte. Zusammen mit dem ersten Ring bildete er eine zu große Macht und die Versuchung ihn zu missbrauchen, war sehr gross. Vor seiner Flucht nach Ägypten hatte Ultied und seine Familie dies am eigenen Leibe schmerzvoll erfahren müssen. Wem konnte er vertrauen? Nachi-ankh-sun! - ja gewiss. Aber er wollte die Frau, die er über alles liebte nicht einer solchen Gefahr ausgesetzt wissen, während er drei Tage nicht körperlich handlungsfähig war. Nein, es musste eine andere Möglichkeit geben. Ultied hatte eine Idee, ein Ablenkungsmanöver...
Er liess den Hauptmann der Leibgarde des Pharao zu sich rufen. Kurz darauf erschien der Hauptmann und verbeugte sich vor Ultied. "Ich habe eine sehr wichtige Aufgabe für Dich Hauptmann!" "Sie erfordert grossen Mut und Verantwortungsbewusstsein". "Der Pharao wird Dich in seiner grossen Weisheit nicht umsonst zum Hauptmann der Garde gemacht haben, die sein Leben beschützt. Deshalb werde ich Dich nun ins Vertrauen ziehen, weil ich glaube, dass Du Dir das Vertrauen des Pharao redlich verdient hast". "So will auch ich Dir nun vertrauen und Dich mit dieser grossen Aufgabe bedenken. Dankend verbeugte sich der Hauptmann abermals vor Ultied.
"Du kennst die Geschichte der beiden atlantischen Ringe?" "Ja, hoher Priester, ich kenne sie." "Dir ist bekannt, dass der Pharao und ich je einen der Ringe beherrsche?" "Ja so ist es, hoher Priester." "Nun höre genau", fuhr Ultied fort. "Dir ist bekannt, dass ich nun für drei Tage "fort" sein werde und auf meiner Reise nichts als meinen Körper und meinen Geist mitführen darf." Der Hauptmann nickte. Ultied zog den Ring von seinem Finger ab, nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt ihn dem Hauptmann vor sein Gesicht. "Dieser Ring hier ist der zweite atlantische Ring und er hat eine unglaubliche Macht." "Gemeinsam mit dem Ring des Pharao hätte er eine zerstörerische Kraft, welche Du Dir in Deinen kühnsten Träumen nicht vorstellen kannst." "Nur Eingeweihte könnten sie entfesseln - aber sei gewarnt - er ist sehr verführerisch!" "Der Ring darf unter keinen Umständen mit dem ersten Ring zusammen gebracht werden." "Dies hatte mein Vater zur Bedingung gemacht als er unserem Pharao den Ring vermacht hat." "Hast Du das verstanden, Hauptmann?" "Ja, hoher Priester, das habe ich!" "Gut!"
Ultied griff zu einem bereit stehenden edlen Holzkästchen, welches innen mit einem kostbaren Tuch ausgeschlagen war. Dort legte er den Ring hinein und verschloss den Deckel. "Ich werde dieses königliche Versteck heute versiegeln lassen und betraue Dich drei Tage lang mit seiner Verwahrung - beschütze es mit Deinem Leben, gebe es niemals her, komme was da kommen wolle!" Ultied hatte diese Worte sehr eindringlich gesprochen und er wusste, dass der Hauptmann sich der Grösse dieser ihm übertragenen Verantwortung bewusst war. "Komme wenn die Sonne sinkt und nehme das versiegelte Geheimnis für drei Tage in deine Obhut und wenn sich der Deckel des Granitsarkophages wieder über mir weghebt, möchte ich Dein Gesicht sehen und das Kästchen ungeöffnet in Deiner Hand!" "So wird es sein, hoher Priester", antwortete der Hauptmann und verbeugte sich. "Zur angegebenen Stunde werde ich hier sein und diese grosse Pflicht übernehmen." "Ich danke Dir für diese Ehre und für Dein grosses Vertrauen!"
Der Hauptmann verliess den Raum und Ultied war zufrieden. Rasch entnahm er den Ring aus der Schatulle und ersetzte ihn durch einen kleinen Kieselstein. Dann liess er die Schatulle mit dem königlichen Siegel versehen. Den Ring schlug er in ein kleines rotes Tuch und steckte ihn ein. Niemand hatte den Austausch bemerkt. Ultied begab sich in sein privates Gemach. Er wollte sich vorbereiten, denn gleich würden ihn die Diener des Hohepriesters abholen und zum Sarkophag geleiten. Der Ring! Er musste ihn verstecken! Das Beste schien ihm zu sein, ihn hier in diesem Raum zu verstecken, denn es war jedem untersagt, während der drei Tage diesen Raum zu betreten. Zuerst musste der Hohepriester wieder in dieser Welt sein. Ultied entschied sich für den Leuchter an der Decke. Er ergriff das Seil, an dem der Leuchter emporgezogen wurde und liess ihn langsam hinunter gleiten. Den Ring liess er in dem Tuch und legte ihn auf das kunstvoll gearbeitete Mittelteil des Leuchters. Dann zog er den Leuchter wieder hoch und befestigte das Seil - es war perfekt, nichts war zu sehen.
Anchi-ankh-sun erschien in der Tür. Lächelnd kam sie zu ihm herüber und schmiegte sich an ihn. Zärtlich fuhr sie ihre Hand unter sein Gewand und strich seine Wirbelsäule entlang. Ultied spürte den zarten Druck ihrer Lenden. "Anchi". "Mach es uns nicht schwer - Du weisst genau, dass es jetzt nicht geht - es würde alles gefährden." "Ich weiss", antwortete Anchi-ankh-sun, "ich wollte einfach nur sehen, ob Du mir unter Deinem alten Namen noch einmal verfällst - unter Deinen Neuen werde ich ja wohl keine Chance mehr haben", sagte sie mit einem schelmischen Lächeln im Gesicht. Sie nahmen sich in die Arme. Ultied erzählte ihr nichts von dem Täuschungsmanöver mit dem Ring.
Viele Schritte waren plötzlich auf dem Gang zu hören. Es war das Geleit. Mit einem letzten Blick auf ihren "alten" Mann verabschiedete sie sich von Ultied. "Gehe hinüber und komme mit Weisheit zurück, Geliebter."Kurz darauf zog Ultied mit einem prozessionsartigen Geleit aus 21 Dienern zur grossen Pyramide. Die Kammer war vom flackernden Schein der Fackeln erleuchtet. Räucherwerk war entzündet und ein schwerer Geruch von Kräutern lag in der Luft. Der Sarkophag stand in der Mitte des Raumes. Seitlich davon ein kleinerer Altar, auf dem der Trankmeister den Becher abgestellt hatte. Eine Mischung aus Gift und Leben, die ihn drei Tage lang an der Schwelle des Todes halten würde, um ihn dann ins Leben zurück zu holen. Ultied entledigte sich seiner Kleider und behielt lediglich seinen Lendenschurz an. Er bestieg den Sarkophag. Schroff empfing ihn der kalte Stein. Im Sitzen wurde ihm der Becher vom Trankmeister gereicht. "Bist Du bereit, durch den Tod in das Leben zu gehen?", fragte der Trankmeister ihn. "Ich bin bereit", antwortete Ultied und leerte den Becher in einem Zug. Er legte sich zurück auf den kalten Boden des steinernen Sarges.
Der Trank wirkte sehr schnell. Ultied bekam noch mit, wie der Deckel mit einem schabenden Geräusch den Sarkophag verschloss. Dann empfing ihn totale Schwärze. Er war.....tot.