Hermine wusste nicht, was sie denken sollte. Seit sie am Morgen neben Tom Platz genommen hatte, hatte er kein Wort mit ihr gewechselt. Stattdessen hatte er sie einfach immer wieder angesehen. Es war kein kalter, abweisender Blick, wie sie es erwartet hätte. Aber es war definitiv auch nicht der Blick, den man normalerweise nach einer intimen Liebesnacht erwarten würde. Er schaute sie an, als wollte er sie warnen. Sie wusste nur nicht genau, wovor.
In Zaubertränke hatten sie schweigend nebeneinander gearbeitet, sie hatte die Zutaten zubereitet, während er sich um den eigentlichen Brauvorgang gekümmert hatte. Auch da hatte er kein Wort mit ihr geredet, doch sein ganzes Verhalten sprach eine eindeutige Sprache. Seine Aufmerksamkeit lag auf ihr, und nur auf ihr.
Der ganze Tag war so verlaufen. Erst jetzt am Abend hatte sie endlich Zeit für sich alleine, Zeit, in Ruhe über sein Verhalten nachzudenken. Sie saß auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum und tat so, als würde sie durch eine Zeitschrift für Arithmantik blättern, während sie in Gedanken zu ergründen versuchte, was Toms Verhalten bedeuten könnte. Wenn es nicht Tom gewesen wäre, hätte sie ihn mit einem Platzhirsch verglichen. Seine Aura den Tag über hatte gewirkt, als wollte er alle anderen Schüler von ihr fernhalten. Entsprechend war es auch nicht verwunderlich, dass sie nicht nur nicht mit Tom, sondern generell mit niemandem gesprochen hatte. Alle schienen einen Bogen um sie zu machen.
Hermine wusste, dass Tom auf eine merkwürdige Weise besitzergreifend sein konnte. Die Tatsache, dass er ihr direkt gesagt hatte, dass er nicht zulassen würde, dass irgendjemand außer ihm sie töten würde, war Beweis genug dafür. Er hatte nicht nur einmal „Meins" gesagt, wenn es um sie ging. Doch bisher war sie immer davon ausgegangen, dass er in ihr nicht mehr als ein Spielzeug sah. Nützlich und interessant zwar, etwas, was er nicht wirklich teilen wollte, aber mehr nicht. Dass er tatsächlich versucht hatte, sie dazu zu bringen, mit seinen engsten Verbündeten zu schlafen, um sie manipulieren zu können, zeigte ihr deutlich, dass er sie durchaus mit anderen teilen würde, wenn es seinem Plan nützte. Seine ganze Scharade mit Abraxas war ein weiterer Beweis dafür.
Warum also hatte sie das Gefühl, dass sich über Nacht etwas geändert hatte? Dass sie miteinander auf eine Weise Sex gehabt hatten, die man unter anderen Umständen als Liebe machen bezeichnen könnte, hatte doch gewiss keine so großen Auswirkungen auf ihn gehabt. Niemals war Tom Riddle jemand, der sich von so etwas beeindrucken ließ.
Ihr Blick fiel auf Orion, der alleine an einem Tisch saß und Hausaufgaben zu machen schien. Seit sie dank Markus erfahren hatte, dass Orion sich offensichtlich merkwürdig verhielt, und sie danach Tom zur Rede gestellt hatte, war ihr selbst aufgefallen, wie zurückgezogen der vorher so lebendige Junge geworden war. Auch ihn versuchte Tom mit Sex zu manipulieren, nur auf eine sehr viel perfidere Art und Weise als die anderen.
Seufzend klappte sie das Magazin zu und legte es auf den Tisch, dann erhob sie sich und setzte sich neben Orion: „Guten Abend."
Seine Reaktion war definitiv anders als erwartet. Statt einer freundlichen, fröhlichen Erwiderung, schoss sein Kopf in die Höhe und er starrte sie an, als hätte er einen Geist gesehen: „Miss Dumbledore. Hallo."
Misstrauisch legte sie den Kopf schräg: „Ist alles in Ordnung?"
Orions Gesicht lief tief rot an, während er in offensichtlicher Nervosität mit seiner Schreibfeder spielte: „Natürlich. Kann ich Ihnen helfen?"
Warum reagierte dieser Junge so? Lag es nur daran, dass er sich zu Tom hingezogen fühlte und sie zufällig dessen Freundin war? Hatte er ein schlechtes Gewissen? Verwirrt erwiderte sie: „Nein, deswegen bin ich nicht hier. Eher andersherum. Ich dachte, ich kann dir helfen."
Sie war unbewusst ins Du gewechselt, doch das schien ein Fehler gewesen zu sein. Immer noch hochrot starrte Orion sie aus großen Augen an: „Sie können nicht wissen … unmöglich. Oder wissen Sie es doch?"
Hermine wurde von Sekunde zu Sekunde verwirrt. Was dachte Orion, was sie von ihm wollte? Sie beugte sich ein Stück vor und senkte die Stimme, damit die wenigen anderen Slytherins, die noch im Gemeinschaftsraum waren, ihre Worte nicht hören konnten: „Ich weiß nicht, was du denkst, was ich wissen könnte. Aber wenn du darüber reden willst, ich höre zu."
Orion senkte den Kopf, ehe er so leise, dass sie es beinahe nicht hören konnte, sagte: „Ich respektiere Sie, Miss Dumbledore. Sie und Tom. Sie sind ein Paar. Ich sollte nicht … es ist nicht richtig."
Also hatte er tatsächlich ein schlechtes Gewissen, weil er sich zu Tom hingezogen fühlte. Mitgefühl machte sich in Hermine breit. Sie war sich sehr sicher, dass Orion nicht tatsächlich schwul war. Nachdem Tom ihr geschilderte hatte, was genau zwischen ihm und Orion vorgefallen war, hatte sie einen ganz anderen Verdacht.
Orion hatte Angst vor Tom.
Angst ging mit ähnlichen Symptomen einher wie Liebe, und natürlich würde jemand wie Orion, der Tom bewunderte und unbedingt auch zum engeren Kreis seiner Freunde gehören wollte, niemals im Leben zulassen, dass er Angst vor Tom hatte. Also deutete er seine Reaktion auf Tom instinktiv als Liebe. Für einen sechzehnjährigen Jungen musste das mehr als verwirrend sein, gerade in dieser Zeit, wo vermutlich niemand offen darüber sprach.
„Hattest du schon mal eine Freundin?", erkundigte Hermine sich leise, in der Hoffnung, dass sie ihn vorsichtig dazu bringen konnte, seine Gefühle für Tom zu überdenken.
Ruckartig lehnte Orion sich vor, griff nach ihrem Handgelenk und hielt sie fest. Überrumpelt starrte Hermine in seine Augen, in denen ein heißes Feuer aus Wut und Angst zu lodern schien. Seine Stimme klang gefährlich, als er erwiderte: „Spielen Sie nicht mit mir, Miss Dumbledore. Ich bezweifle, dass Tom es gut heißen würde, wenn er wüsste, was Sie hier gerade versuchen. Ich werde mich nicht von Ihnen in Versuchung führen lassen. Ich weiß, dass Amerikanerinnen ihren Körper gerne gegen Männer einsetzen, aber ich werde dem nicht nachgeben!"
Entsetzt entriss Hermine ihm ihren Arm. Das dachte er von ihr? Augenblicklich verfolg alles Mitleid, das sie für diesen Jungen verspürt hatte. Genau wie Rufus Lestrange schien auch er sie nur darauf zu reduzieren, dass sie ihren Körper als Waffe einsetzte. Ebenso eisig wie er erwiderte sie: „Entschuldigen Sie bitte. Verzeihen Sie meine Worte, sie waren aufrichtig gemeint."
Mit diesen Worten stand sie auf und ließ ihn alleine am Tisch zurück. Lag es an dem Jahrzehnt, dass alle Männer hier zu glauben schienen, dass sie nur Sex wollte? Sofort schüttelte sie den Kopf. Abraxas hatte das nie auch nur angedeutet, im Gegenteil. Er hatte sich stets geschockt gezeigt, wenn er irgendwelche auch nur entfernt sexuellen Handlungen von ihr erahnen konnte. Grimmig verließ sie den Gemeinschaftsraum, um sich ihre Wut aus dem Leib zu laufen. Sie hätte ihr Mitleid nicht an einen Black verschwenden sollen. Bellatrix Lestrange war eine Black gewesen, was hatte sie von ihren älteren Verwandten erwartet?
Mit einem genervten Schnauben ließ Hermine sich auf einer Fensterbank nieder, die Ausblick auf die Tiefen des Großen Sees gab. Es war schon zu dunkel, als das man noch viel hätte sehen können, doch das Wissen, das hinter dieser dicken Scheibe ein ganzes Reich von Tieren lebte, beruhigte ihre Sinne ein wenig.
„Miss Dumbledore."
Überrascht drehte sie den Kopf in die Richtung, aus der sie selbst gerade gekommen war. Orion Black stand einige Meter von ihr entfernt und schaute sie zerknirscht an.
„Mr. Black?"
Sie war nicht gewillt, einen Schritt auf ihn zuzugehen. Sein Verhalten war unmöglich gewesen, er würde sich schon eine gute Entschuldigung einfallen lassen müssen, um ihre Sympathien zurückzugewinnen.
Langsam kam er auf sie zu, die Hände in den Hosentaschen vergraben, bis er schließlich vor ihr zum Stehen kam. Unsicherheit war klar in seinem Gesicht zu lesen, während er auf sie hinab schaute: „Ich … es tut mir leid. Kein Mann sollte jemals so mit einer Dame reden, wie ich es gerade getan habe."
Ungerührt zog sie eine Augenbraue hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. Wenn das alles war, was er zu sagen hatte, war sie nicht beeindruckt.
Kurz schien er mit sich zu kämpfen, doch dann war der Damm offensichtlich gebrochen: „Ich bin einfach so verwirrt. Ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Sie sind in einer Beziehung mit Tom und haben gewiss mehr Erfahrung in diesen Dingen als ich. Aber dennoch ist es nicht recht, wenn ich als Mann mit Ihnen als Dame über solche Dinge rede. Insbesondere nicht, da wir keine solche Beziehung miteinander haben. Und dennoch habe ich das Bedürfnis … mich mitzuteilen."
Obwohl er noch immer keine wirkliche Entschuldigung vorgebracht hatte, schmolz Hermines Herz dahin. Irgendetwas belastete diesen Jungen, irgendetwas, das mehr sein musste als bloß seine Homosexualität. Sie rutschte ein Stück zur Seite und klopfte auf die Fensterbank neben sich: „Komm, setzt dich und rede. Ich höre zu."
Mit einem tiefen Seufzen ließ er sich neben ihr nieder, die Schultern hängend, den Blick auf den Boden gerichtet. Es dauerte einige Minuten, ehe er anfing zu sprechen: „Ist es normal, sich zu Menschen hingezogen zu fühlen, mit denen man keine offizielle Beziehung führt? Körperlich hingezogen?"
Warm lächelte Hermine ihn an: „Das ist völlig normal. Wonach entscheiden wir denn, mit wem wir offiziell zusammen sein wollen, wenn wir vorher keinerlei solche Gefühle für irgendjemanden verspüren?"
Orions Augen leuchteten auf und er nickte eifrig: „Das ist ein guter Punkt." Doch sofort sanken seine Schultern wieder herab: „Aber es ist doch sicher nicht nochmal, für mehrere Menschen gleichzeitig so zu fühlen, oder?"
Hermine musste sich ermahnen, nicht zu lachen bei diesen Worten. Orion war erstaunlich naiv für seine sechzehn Jahre. Darum bemüht, nicht zu progressiv zu klingen, erklärte sie: „Auch das ist normal. Reine körperliche Anziehung ist nur … die Vorstufe zu echter Liebe. Echte Liebe kann man nur für einen Menschen empfinden, aber bevor wir den gefunden haben, sind wir … unsicher."
„Aber woher weiß ich denn, was echte Liebe ist?"
Nachdenklich wiegte Hermine ihren Kopf hin und her: „Das kann ich dir nicht erklären. Aber wenn du sie spürst, dann weißt du es."
„Fühlen Sie echte Liebe für Tom?"
Ihr Lächeln erstarrte. Was sollte sie diesem Jungen sagen? Sollte sie ihn anlügen und so tun, als wäre zwischen ihr und Tom wirklich alles wie in dem Märchen, das sie gerade erzählte? Oder sollte sie wie bei Lestrange offen sein? Sie beschloss, einen Mittelweg zu wählen: „Tom und ich sind in vielerlei Hinsicht kompatibel. Wir verstehen uns auf eine Art, wie kein anderer uns verstehen könnte. Ob es echte Liebe ist, wird sich gewiss bald zeigen."
Ein merkwürdiges Glitzern war in Orions Augen getreten, als sie das gesagt hatte. Seine Stimme klang angespannt, als er nachhakte: „Also ist es keine echte Liebe?"
Überfordert und unsicher, worauf er hinaus wollte, hob Hermine beide Hände: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe …"
Weiter kam sie nicht. Plötzlich hatte Orion sich vorgelehnt, sie an den Oberarmen gepackt und seine Lippen auf ihre gepresst. Entsetzen breitete sich in Hermine aus, als sie realisierte, was hier gerade geschah. Mit aller Macht stieß sie ihn von sich.
„Was hast du dir dabei gedacht?", verlangte sie zu wissen. Ihre Gedanken rasten. Das durfte nicht passieren. Nicht auch noch Orion. Tom hatte genug gegen ihn in der Hand, es brauchte nicht noch mehr.
Orion war derweilen hochrot angelaufen und in sich zusammengesunken. Mit leiser, brüchiger Stimme erklärte er: „Ich habe euch gesehen. Als ihr … als ihr im Gemeinschaftsraum … zusammen wart. Und ich … Sie haben gesagt, es sei normal! Sie haben gesagt, es sei normal, dass ich so empfinde. Ich habe Ihre entblößten Schenkel gesehen und ich wollte … ich wollte auch …"
„Was wolltest du auch?", fuhr sie ihn an: „Ich bin kein Gegenstand, Orion Black!"
„Wenn du mit Respekt behandelt werden willst, dann benimm dich auch so, dass man Respekt vor dir haben kann!", entgegnete Orion trotzig.
Ungläubig starrte Hermine den Jungen an. Er war noch immer rot im Gesicht und ganz offensichtlich peinlich berührt. Doch seine Worte zeigten deutlich, dass die Erziehung der Zeit in ihm einen sehr gefährlichen Mix aus Unwissenheit und Anspruchshaltung hervorgerufen hatte. Eisig erklärte sie: „Es ist völlig egal, wie ich mich verhalte. Ich bin ein Mensch und nur ich entscheide darüber, wer sich mir nähern darf und wer nicht. Mein Körper gehört mir. Selbst wenn ich nackt vor dir stünde, gäbe dir das kein Recht, mich zu berühren!"
„Rufus meinte…", setzte Orion an, doch Hermine schnitt ihm sofort das Wort ab.
„Mr. Lestrange ist der letzte Mann, der etwas von Respekt und Anstand versteht. Vertraue niemals seinem Wort. Orion", sagte sie eindringlich, „verstehst du überhaupt, worum es hier geht? Verstehst du, was du gerade getan hast?"
Stumm schaute er sie an. Hermine wusste nicht, ob sie wütend oder traurig sein sollte. Orion war offensichtlich viel zu naiv aufgewachsen. Hatten seine Eltern wirklich nie mit ihm über solche Dinge geredet? Dass er ausgerechnet von Lestrange erfahren hatte, wie man mit Frauen umgehen konnte, machte die ganze Sache gefährlich. Langsam erhob sie sich: „Ich bin mit Tom zusammen, Orion. Mit Tom, dem du deine Treue geschworen hast. Denk bitte darüber nach, ehe du das nächste Mal den Impuls verspürst, irgendein Mädchen zu küssen. Es ist in Ordnung, das tun zu wollen. Aber es ist nicht in Ordnung, es gegen ihren Willen zu tun."
Sie sah, dass Orion sie schon gar nicht mehr hören konnte. Er hatte die Knie angezogen und seine Arme um seine Beine geschlungen. Beinahe hätte sie Mitleid mit ihm gehabt. Er war ein in seiner Sexualität völlig verwirrter Jugendlicher, der von allen Seiten nur verwirrende Dinge zu hören bekam.
Trotzdem, sagte sie sich selbst, während sie zum Gemeinschaftsraum zurückging, trotzdem hatte er kein Recht, sie einfach zu küssen. Ihr schauderte. Der Gedanke, dass vermutlich die meisten jungen Männer in dieser Zeit mit ähnlichen Vorstellungen aufwuchsen wie Orion, führte ihr drastisch vor Augen, wie gefährlich es für Frauen war. Wenn sie nach den Vorstellungen dieser Zeit aufgewachsen wäre, wer wusste, ob sie ihm nicht recht geben würde und zugelassen hätte, dass er mehr tat als nur küssen, weil sie tatsächlich dachte, dass er das Recht dazu hatte?
Doch sie hatte keine Zeit, über die Anstandsregeln der vierziger Jahre nachzudenken. Viel wichtiger war die Frage, ob sie Tom von dem Vorfall mit Orion erzählen sollte. Konnte sie es riskieren, ihm nichts zu erzählen? Das Risiko war hoch, dass Orion irgendwann von selbst vor Tom alles erzählen würde. Aber durfte sie ihm wirklich noch mehr Munition geben?