Am Friedhof:
Amy wanderte unter den tiefhängenden Blättern der Bäume entlang. Es war still, nur einige Vögel sangen. Im Unterholz raschelten Mäuse oder andere Waldtiere.
Daheim sah es aus, als würde Amy bald ausziehen. Alle persönlichen Dinge waren in Kartons gepackt oder im Müll gelandet. Sie konnte es nicht ertragen, diese kleinen Dinge um sich zu haben, an denen sie festgehalten hatte. Vielleicht hoffte sie auch tief im Inneren, diese kleinen Details gegen Eve, Milo und Liam eintauschen zu können.
Drei Wochen waren vergangen. Sie hatten beide einen Geldbetrag erhalten, einige tausend Euro, von einem anonymen Konto. Es war wohl wirklich vorbei.
Jetzt blieb nicht mehr viel. Der Schrecken klang langsam ab. Die Polizei verschwand aus Amys Leben, die Psychiater blieben. Sie hatte noch niemandem die ganze Wahrheit erzählt. Wer würde ihnen schon glauben, dass es Dämonen und andere Welten gab?
Der Friedhof war wunderschön. Er erinnerte mehr an einen kleinen Park, mit Grünflächen, einem See und vielen verschlungenen Waldwegen. Wenn man über einen Grabstein stolperte, war das schon fast Zufall.
Es sei denn, man wusste, wo die Gräber lagen.
Amy ging zielstrebig die Wege entlang. Die schwarz gekleideten Trauergäste einer Zeremonie kamen ihr entgegen. Amy grüßte nicht und hob nicht einmal den Kopf. In ihrer Hand hielt sie drei weiße Tulpen.
Ihr Ziel lag abseits des Weges, von hohen Hecken umschlossen wie alle Gräber hier. Man war allein, allein mit der erstaunlich lebhaften Natur, den späten Bienen und Schmetterlingen, den Herbstfarben.
Amy kniete sich vor die drei einfachen Holzkreuze. Irgendwann würden sie durch Steine ersetzt werden, noch waren es drei kleine Kreuz, die an Vögelhäuschen erinnerten.
Sie trugen die drei Namen: Evelyn Berg, Milo Yamada und Liam Kaiser. Vor Amys Augen verschwamm die schwarze Schrift.
Sie legte die Tulpen schweigend ab, eine für jeden kleinen Erdhügel. Um diese Zeit waren alle in der Schule oder Uni oder Arbeit. Sie war fast vollständig allein, an einem kühlen Dienstag Ende November. Bald würde der Winter kommen und Schnee die Grabhügel bedecken. Die großen Trauerkränze, die man auf die Erde über den leeren Särgen gelegt hatte, vertrockneten. Amy fühlte sich einsam. Ihre Freunde waren nicht hier, nicht einmal deren Überreste. Es hatte eine Feier im kleinen Kreis gegeben, und man hatte drei Gräber ausgehoben, damit es wenigstens einen Ort gab, den man mit den Toten verbinden konnte.
Eine Träne rollte über Amys Wange, aber sie lächelte tapfer. Sie sagte kein Wort. Was konnte man auch sagen?
Als sie aufstand und zurück ging, zogen dunkle Wolken über den Himmel und der Wind frischte auf. Amy zog ihre Jacke enger um sich.
Dann, ohne Vorwarnung, kribbelte ihr Rücken plötzlich. Amy wirbelte herum, doch sie sah nichts. Dabei hätte sie schwören können, dass sie beobachtet wurde!
Sie schluckte. Plötzlich war der Waldfriedhof groß, dunkel und weit abgelegen von aller Zivilisation.
Und sie war allein.