Wie kam Tamara bloß auf die idiotische Idee, sie mit einer solch bedeutungsschweren Information in der Handtasche einfach so mir nichts, dir nichts auf dem Kinderfest im Magniviertel zu treffen und ihr dort die Tatsachen um die Ohren zu hauen? Und dann noch so gefühlskalt und beiläufig. Als hätte sie ihr ein weiteres Stück Kuchen zum Kaffee angeboten anstatt ihr zu erzählen, dass Owen Lawrence nicht ihr biologischer Vater war und sie somit Halbgeschwister hatte. Bebend, da die Vielfalt an Emotionen sie fast überforderten, stand Gemma nun hier und wartete auf Tiara, die Zane ihr schicken wollte, damit sie nicht alleine war. Er machte sich um seine Cousine Sorgen, welche überhaupt nicht seine Cousine war, wenn man Tamara, ihrer Mutter, Glauben schenken durfte. Ihr ganzes Leben basierte auf einer einzigen großen Lüge. Nach einem tiefen zittrigen Atemzug sah sie sich um und stellte fest, dass ihre Freundin angelaufen kam und einen wirklich besorgten Gesichtsausdruck mit sich brachte.
Keuchend kam sie neben ihr zum Stehen und beugte sich nach vorn, um sich mit den Händen auf den Oberschenkeln abzustützen und zu Atem zu kommen.
„Gott, ich sollte wieder mehr Sport treiben… ich bin vollkommen aus der Puste...“, schnaufte sie schwerfällig und richtete sich dann wieder auf, um ihrer Freundin einen aufmerksamen Blick zuzuwerfen. „Was ist passiert, Gem? Zane war außer sich vor Sorge und hat mich gebeten nach dir zu schauen.“
„Ich…“, begann Gemma zögernd und verkrampfte ihre Finger ineinander, während sie auf den Boden zu ihrer beider Füße starrte. „Meine Mutter, Tamara, hat mit mir ein Gespräch gesucht, welches ihr sehr wichtig war, … Ich habe mit wirklich allem gerechnet, Tia, aber nicht mit…“
„Gem, du musst mir nichts genaueres erzählen, wenn du dich nicht bereit dafür fühlst. Egal was es ist, ich werde dir zuhören, wenn du es mir sagen möchtest. Wenn du das nicht willst, ist es für mich auch in Ordnung und ich bin einfach nur für dich da“, versuchte die Brünette sie zu trösten und lächelte sie aufmunternd an. „Die Entscheidung liegt ganz bei dir.“
„Danke… Aber ich möchte es jemanden anvertrauen“, erwiderte Gemma nach einem leisen Räuspern und blickte Tiara seufzend an. „Nur, bitte, erzähl es niemandem, ja? Nicht einmal Ethan. Ich muss damit erst einmal selbst klar kommen und für Ethan und Zane… Du weißt wie sie reagieren, wenn jemand der … der Familie schaden möchte.“
Alarmiert runzelte Tiara die Stirn und dachte über das seltsame Zögern nach, als sie darüber sprach, wie die beiden Brüder sich für ihre Familie einsetzten. So kannte sie die taffe Blondine überhaupt nicht und Sorge breitete sich wie Gift in ihrem Körper aus. Was hatte ihr Tamara erzählt, dass Gemma so durcheinanderbrachte?
„Lass uns zusammen nach Hause gehen, hier gehen viel zu viele Leute vorbei und sind neugierig“, schlug Tiara ihrer Freundin vor, die noch immer völlig durcheinander war und nur knapp nickte. „Egal was es ist, wir bekommen das schon wieder hin.“
„Ich befürchte, so einfach ist das nicht.“
Sie nahmen eine Abkürzung, die abgelegener war und auf der man nicht allzu viele Menschen traf, da die meisten lieber die öffentlichen Wege nutzten, anstatt über Wald und Wiesen zu laufen. Nachdem die Jüngere der beiden Frauen sich prüfend in alle Himmelsrichtungen umgesehen hatte, wandte sie sich an ihre Freundin und biss sich kurz auf die Unterlippe. Die Traurigkeit stand Gemma förmlich ins Gesicht geschrieben.
„Wir sind unter uns, Gem.“
„Meine Mutter…“, fing sie sie an zu sprechen und schluckte dann, ehe sie stehen blieb und einem Eichhörnchen dabei zusah, wie es an einem Baum hochkletterte und in der Krone dessen verschwand. „… sie hat sich von meinem … Gott… Tia, ich kann es nicht aussprechen! Es ist so surreal…“
„Deine Eltern haben sich getrennt?“, riet Tiara und ergriff beide Hände ihrer Freundin, um sie ein wenig zu erden und ihr zu verdeutlichen, dass sie nicht alleine war. „Doch das wird dich nicht so aus dem Konzept gebracht haben, hm? Immerhin bist du alt genug und weißt, dass auch langjährige Ehen und Beziehungen in die Brüche gehen können. Was hat sie genau gesagt?“
„Ja, sie haben sich getrennt… Nachdem sie ihm brühwarm erzählt hat, dass ich nicht seine biologische Tochter bin. Dreißig Jahre lang dachte er, er hätte einen Sohn und drei Töchter – drei – verstehst du? Und nun…“
Die Verzweiflung stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben und Tiara starrte sie entsetzt an, weil sie nicht glauben konnte, was sie da gerade erfahren hatte. Gemma war nicht Owen Lawrence’ Tochter? Ihm wurde durch seine eigene Ehefrau ein Kuckuckskind untergeschoben? Und dann besaß diese Frau auch noch die Frechheit ihm das vermutlich so vor den Latz zu knallen, wie ihrer eigenen Tochter? Was war das nur für eine unangenehme Person.
„Wie muss Dad sich gefühlt haben, als sie ihm eiskalt ins Gesicht gesagt hat, dass er all die Jahre über im Irrglauben war, ich wäre sein leibliches Kind und bin es schlussendlich doch nicht… Sie hat jemand neues kennengelernt und zieht mit ihm irgendwo nach Italien hat sie gesagt… Wie ich mich fühle, war ihr scheißegal“, stieß Gemma bitter hervor und Tränen sammelten sich in ihren blauen Augen. „Die Gefühle aller sind ihr egal! Was habe ich für eine Mutter?“
Mitgefühl schwappte durch Tiara, da sie selbst genau wusste, wie es sich anfühlte, wenn man sich eine Mutter wünschte, die einfach für das eigene Kind da war, wenn es sie brauchte und ihm nicht noch das Messer in den Rücken rammte. Eingangs dachte sie, Gemma hätte eine Bilderbuchfamilie. Einen leicht exzentrischen Vater, der einen Faible für Edelsteine aller Art hegte und selbst seinen Kindern Namen verpasste, die in das Schema seines Hobby fielen – dazu eine Ehefrau, die mit ihm die seltsamsten Expeditionen unternahm, damit er nicht sein ganzes Geld für Edelsteine ausgab und scheinbar an seiner Seite glücklich war… Einen vier Jahre älteren Bruder, Zwillingsschwestern welche drei Jahre jünger waren als Gemma und die besten Cousins der Welt. So hatte zumindest Tiara das gesehen und vermutlich fühlte ihre Freundin sich bis vor wenigen Minuten auch exakt so.
„Auch wenn du nicht das leibliche Kind von Owen bist, so bleibt er noch immer dein Dad, oder ändert sich für dich nun etwas?“
„Nein, natürlich nicht… Aber wir – er und ich – wurden jahrelang belogen. Gott, ich weiß nicht einmal, ob er noch mit mir Kontakt möchte“, verzweifelt legte Gemma ihren Kopf in den Nacken und sah dann ihre Freundin wieder an, welche sie sanft ansah. „Vielleicht möchte er mit mir nichts mehr zu tun haben, weil ich ihn ab sofort immer an diesen Betrug durch meine Mutter erinnere.“
„Ich kenne ihn zwar nicht, kann es mir aber auch nicht vorstellen.“
Ohne zu überlegen zog Tiara sie in ihre Arme und drückte sie fest an sich, da Worte hier nicht viel erreichten, um etwas von diesem seelischen Schmerz zu lindern.
* * *
„Kannst du schon mal alles fertig machen, Jannis? Tiara ist gerade noch mit Gemma unterwegs, die beiden kommen später. Ich checke, ob die Toiletten sauber sind und die Anlage funktioniert.“
„Klar, Ethan, macht euch keinen Stress. Du weißt doch, ich bin immer etwas eher hier, falls etwas außergewöhnliches dazwischen kommt“, grinste der immer gut gelaunte und braungebrannte Mitarbeiter des vergangenen Jahres und zwinkerte seinem Chef zu. „Die Getränke sind soweit auch aufgefüllt, es fehlen nur noch einige Zutaten für die Cocktails, aber die hole ich gleich aus dem Lager und stocke sie an der Bar auf.“
„Sehr gut. Auf dich ist immer Verlass.“
Lob gab es von Ethan Williams für jeden, der seine Aufgaben sorgfältig und zuverlässig erledigte, was die komplette Crew geradezu beflügelte sich noch mehr anzustrengen. Jannis warf einen heimlichen Blick auf die knackige Kehrseite des Mannes der leider für das gleiche Geschlecht keinerlei sexuelle Gedanken hegte und seufzte. Er gönnte ihm sein Glück mit Tiara, hatte aber schon eine kleine Schwäche für diesen göttlichen Kerl. Doch mehr als ein bisschen mit ihm zu flirten würde niemals von Jannis Seite aus passieren. Er respektierte ihn und auch dessen Verlobte, sah es jedoch als herben Verlust für die Männerwelt.
„Starrst du mir schon wieder auf den Hintern?“, grinste sein Chef ihn amüsiert an und Jannis winkte seufzend ab. „Ich habe es genau gespürt. Du weißt doch: dieser Körper gehört Tiara.“
„Ja ja, Süßer, samt Herz und allem anderen, ich weiß doch. Und dass soll auch so bleiben“, sagte Jannis lachend und wackelte anzüglich mit den Augenbrauen. „Aber gucken wird noch erlaubt sein, hm?“
„Lass dich bloß nicht dabei erwischen. Ich garantiere für nichts.“
Leise lachend kontrollierte Ethan die Musikanlage und vergewisserte sich, dass alles funktional war, ehe er einen kurzen Kontrollgang durch die Sanitäranlagen machte. Auch hier war augenscheinlich alles in Ordnung, ganz zu seiner Zufriedenheit. Auf dem Rückweg zwinkerte er mit einem neckendem Grinsen Jannis zu, welcher sich gespielt übertrieben Luft zufächelte und ein kleines entzücktes Stöhnen von sich gab, was dazu führte, dass sie beide lachen mussten. Er würde sich niemals auf einen Mann einlassen, flirtete jedoch zu gern mit Jannis, um ihn zu ärgern und weil er wusste, er verstand diesen Spaß auch als solchen und machte sich keine falschen Hoffnungen.
„Was macht eigentlich dein gut gebauter kleiner Bruder?“, fragte Jannis grinsend und hob neugierig die Augenbrauen. „Ist er noch auf dem Kinderfest und schwitzt?“
„Du warst da?“, staunte Ethan, war allerdings nach einem kurzen Moment nicht mehr ganz so verwundert. „Natürlich warst du das. Immerhin konntest du so wenigstens ihn schwitzen sehen, wenn du schon nicht ins Studio kommst, um mich schwitzen zu sehen, weil dir die Leute dort zu primitiv sind.“
„Korrekt erfasst. Also?“
„Also was?“
„Zane?“, seufzte er melodramatisch und verdrehte dabei gespielt genervt die Augen. „Schwitzt er noch?“
„Nein“, antwortete Ethan ihm und unterdrückte ein diabolisches Grinsen, ehe er weitersprach. „Er steht oben unter der Dusche und ihm wird ein Wasser-Schaum-Gemisch über den Körper rinnen.“
Jannis schnappte nun ernsthaft nach Luft und ein herzhaftes Lachen entkam Ethans Brust, bevor er ihm auf die Schulter klopfe und sich einen Lappen schnappe, um einmal über die Arbeitsflächen der Bar zu wischen.
* * *
„Geh schon mal hoch, ich schaue kurz nach, ob Jannis bereits da ist und er klar kommt, ja?“, bat Tiara Gemma und diese ging eiligen Schrittes die Stufen hoch, gab den Türcode ein, den sie mittlerweile erhalten hatte und sie Ethan somit nicht zur Tür scheuchen musste, und betrat die angenehm kühle Behausung des baldigen Ehepaars.
In einigen Wochen fand die Hochzeit statt und sie war schon neugierig darauf, wie Tiara in ihrem Brautkleid aussehen würde, welches sie sich noch aussuchen musste. Mit schnellen Schritten durchquerte sie den langen Flur und wollte gerade um die Ecke biegen, als sie gegen etwas, beziehungsweise jemanden, lief und erschrocken aufkeuchte, während sie strauchelte und hinzufallen drohte. Große, starke Hände umfingen ihre Hüften und hielten sie an Ort und Stelle und sie blinzelte ein paar Mal, da sie eine breite, gebräunte und höllisch heiße muskulöse Männerbrust vor sich sah. Einzelne Wasserperlen standen auf der Haut und sie unterdrückte den irrsinnigen Impuls sie wegzuwischen, trat einen Schritt zurück und hob den Blick.
„Es tut mir leid, Eth…“, setzte sie zu einer zerknirschten Entschuldigung an und stockte dann abrupt, da sie den älteren der beiden Brüder erwartet hatte. „… an. Zane? Was…“, er jedoch ließ ihre Hüften nicht los, obwohl es nicht mehr notwendig war sie zu stützen, da sie sich wieder gefangen hatte.
Aber ihre Hüften unter seinen Händen ließen ihn kurz vergessen, dass es sich bei Gemma um seine Cousine handelte. Und zwar um seine vier Jahre ältere Cousine, weshalb er sie nun doch losließ und einen Schritt von ihr zurücktrat; auch weil sie sich unter seiner Berührung seltsamerweise versteift hatte. Vermutlich war sie gedanklich direkt bei seinem Fauxpas am New Yorker Flughafen, wo er, in seiner wieder hochgekochten Wut, einfach bei ihrem Ex-Freund Dexter angerufen und ihn nach dessen Verstand gefragt hatte, da er ein riesiges Brimborium veranstaltete, um Gemma zu vergraulen, nur weil dieser Volltrottel ein Feigling war und ihr nicht offen sagte, dass er eine neue Flamme hatte und sich trennen wollte.
„Sorry, ich war wohl ein wenig zu eilig unterwegs“, entschuldigte er sich ehrlich bei ihr und deutete hinter sie auf seine Trainingstasche. „Ich hatte nicht damit gerechnet jemand anderen als Ethan hier anzutreffen, sollte er schon wieder zurück sein, sonst hätte ich meine Wechselklamotten mit ins Bad genommen, anstatt sie hier zu lassen.“
„Nein, mir tut es leid. Ich hätte vielleicht nicht so hier reinrauschen sollen“, hob sie abwehrend die Hände und verzog kurz den Mund, wobei sie sich zwang ihn nicht näher in Augenschein zu nehmen. „Ich setz mich einfach da auf die Couch und… lese die Zeitschrift.“
Mit schnellen Schritten gelangte sie zum bequemen Sitzmöbel, auf welchem sie bereits einige Nächte verbracht hatte und schnappte sich die Zeitung über moderne Architektur, um ihre Nase demonstrativ dort hineinzustecken. Zane verfolgte jede ihrer Bewegungen und konnte feststellen, dass es ihr irgendwie unangenehm war, was ihn verwunderte, denn sie hatte ihn bereits mehrfach in Badeshorts gesehen. Gut, es war zwar schon ein ganzes Weilchen her und gerade trug er nur ein Handtuch um die Hüften, aber dennoch…
„Du darfst ruhig einen Blick riskieren, Cousinchen“, sagte er belustigt, griff in seine Trainingstasche, die er mit wenigen Schritten erreichte und suchte seine Kleidung in einer hockenden Position heraus, ehe er sich wieder aufrichtete. „Es gibt nichts, was du nicht irgendwann schon mal gesehen hättest.“
„Dass… da waren wir noch Kinder, Zane. Außerdem wüsste ich nicht, warum ich einen Blick riskieren sollte. Du bist mein Cousin“, erwiderte sie und er zog seine Augenbrauen zusammen, denn ihre Stimme hatte mit einem Mal einen seltsam bedrückten Unterton, der vorher nicht dagewesen war, nachdem sie im Loft aufgetaucht war.
Mit vor Aufregung klopfendem Herzen sah sie ihm dennoch hinterher als er mit den Klamotten im Badezimmer verschwand damit er ordentlich angezogen herumlief und nicht halbnackt. Ihr Blick rutschte an seinem muskulösen Rücken herab und verweilte, einen Augenblick zu lang, auf seinem strammen Hintern, der nur durch ein sehr knapp bemessenes weißes Handtuch bedeckt wurde, erhaschte dann noch einen Zentimeter gut trainierter Beine, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss klickte und sie leise aufstöhnend die Fachzeitschrift auf die Couch warf, nachdem sie sie zugeklappt hatte.
Hast du dieses Prachtexemplar von Mann gerade gesehen, Gem? Diese Rückenmuskulatur… der göttliche Hintern und dann noch diese Beine. Von seinen Augen und dem heißen Grinsen will ich erst gar nicht anfangen zu…
Gemma zischte leise und fuhr sich mit beiden Händen durch ihre Haare, welche sie mit einem Lockenstab aufwendig in Form gebracht hatte, lehnte sich dann matt gegen die Rückenlehne der Couch und starrte an die Deckenbalken. Wann genau hatte sie angefangen Zane attraktiv zu finden? Ihr Kopf schwirrte ihr und sie schloss für einen kleinen Moment die Augen, um sich wieder sammeln zu können und atmete tief durch. Es muss irgendwo zwischen seinem Auftritt und der Berührung passiert sein, nachdem er ihr besorgt nachgelaufen war, schätzte sie grob, war sich jedoch nicht zu einhundert Prozent sicher.
„Gem…“, sprach der Mann sie an, über den sie gerade sinnierte und zuckte innerlich zusammen, sah ihn dann aber aufmerksam an. „Geht es dir gut?“
„Ja, Zane.“
„Wirklich gut? Oder sagst du dass nur, damit ich Ruhe gebe?“
Er schaute sie unverwandt an und sie hatte das brennende Gefühl, er würde ihr bis auf den Grund ihrer Seele blicken wollen, weshalb sie sich ein Lächeln auf ihr Gesicht zwang, von dem sie hoffte, dass es ihre Augen ebenfalls erreichte. Seine Augenbrauen zogen sich kaum merklich zusammen und er fragte sich, warum sie ihm versuchte etwas vorzumachen. Zane konnte ganz deutlich erkennen, dass sie etwas bedrückte und fluchte innerlich auf, weil er ganz genau wusste, dass sie sich ihm gegenüber nicht öffnen wollte. Indes stellte Gemma fest, dass er erneut weite Kleidung im Hip-Hop Stil trug und musste sich widerstrebend eingestehen, dass sie ihm wirklich standen. Regulär betonten eng anliegende Oberteile eine gut gebaute Männerbrust, hier jedoch bewirkte das weite Muskelshirt exakt diesen Effekt, denn seine durchtrainierte Brust blitzte bei jeder größeren Bewegung zwischen dem weißen Stoff hervor. Von seinen muskulösen Oberarmen musste sie nicht erst sprechen, soviel war klar.
Als er seine schmutzige Kleidung in die Trainingstasche stopfte, betrachtete sie ihn in seiner gehockten Haltung und zwang sich woanders hinzusehen, während er sich wieder aufrichtete und mit einem Stirnrunzeln zu ihr sah.
„Egal was Tamara gesagt hat – wir sind eine Familie und halten zusammen und es gibt nichts, was wir nicht für dich regeln könnten, Gem. Du brauchst das auch nicht zu kommentieren; ich will nur, dass du es weißt.“
Mit großen Augen sah sie ihn nun doch wieder an und schluckte. Wenn sie ihm eröffnete, dass sie überhaupt nicht zur Familie gehörte, würde er außer sich sein und solche Dinge nicht mehr sagen, was sie unheimlich traurig machte. Innerlich ballte sie ihre Hände zu Fäusten, äußerlich nickte sie. Zane bemerkte wie sie innerlich mit sich kämpfte und knurrte leise, weil er Tamara am liebsten zur Rede stellen und fragen wollte, was genau sie ihrer Tochter an den Kopf geworfen hatte, denn es gehörte schon einiges dazu, sie so aus der Bahn zu werfen. Gem war eine Kämpfernatur, die selbst nach dem Fiasko mit Dexter relativ entspannt gewesen war und niemand bekam zu sehen, wie sehr sie der Betrug doch traf. Nach außen hin sie die Coole mit der ansteckenden guten Laune, die in der Zwischenzeit die Mentorin für Tiara geworden war und ihr Selbstbewusstsein ein wenig angeschubst hatte, indem sie mit ihr shoppte, ihr Ratschläge gab und sie stylte, bevor sie im ZEE ein paar Cocktails und Shots vernichtet hatten, um Ethan mit ein bisschen Glück aus der Reserve zu locken. Im Vergleich zu jetzt war sie einfach nur am Boden und machte es ihn verdammt wütend, dass Tamara anscheinend etwas gesagt oder getan hatte, was Gemmas Welt derart auf den Kopf stellte.
„Gem, ich bin wieder da, sorry, ich… Oh, hi, Zane. Du bist hier?“, rief Tiara aus dem Flur rechts von ihm und er drehte seinen Kopf um sie anschauen zu können. „Nicht, dass ich dich nicht gern hier habe, aber ich bin überrascht, weil du doch so erledigt warst.“
Ihr Lächeln erhellte den Raum und er grinste schief, ehe er abwinkte.
„Ich hab schnell hier geduscht und wollte schauen ob mit Gem alles gut ist, ehe ich mich nach Hause verdrücke, oder runtergehe und an der Bar mithelfe.“
„Du hast nie genug arbeit, hm?“, grinste sie ihn neckend an und schnipste ihm mit dem Zeigefinger gegen die Schulter. „Hast du überhaupt passende Kleidung hier?“
„Ethan leiht mir sicherlich ein Shirt und eine Jeans, schätze ich. Momentan bin ich auf dem Trip mit der Street Wear, die ist einfach bequemer als alles andere was ich jemals am Leib hatte“, erwiderte er mit einem Schulterzucken und ging zum Kaffeevollautomaten. „Noch jemand einen Kaffee?“
Tiaras Blick suchte den von Gemma, jetzt, da Zane kurzfristig abgelenkt war und mit dem Rücken zu den Frauen stand. Gemma neigte ihren Kopf ein wenig um ihrer Freundin stumm mitzuteilen, dass es in Ordnung war das Zane hier war, und sie nach Kaffee fragte, und lächelte dann ein ganz kleines bisschen, was Tiara sichtlich aufatmen ließ.
„Für mich...“, begann sie lächelnd und Zane hob eine Hand, um ihr Einhalt zu gebieten.
„… einen Tee. Ich weiß. Pfefferminz?“
Lachend schlug sie ihm gegen Rücken und er stöhnte leise auf, obwohl es sich anfühlte, als wenn sie ihn lediglich sanft angestupst hatte, was Gemma ein Grinsen entlockte, wie er wohlwollend zur Kenntnis nahm. Wenn es ihr besser dabei ging, machte er sich gern zum Kasper. Hauptsache sie lächelte und blies keinen Trübsal. Was er nicht mochte, war, wenn es ihr nicht gut ging und er ihr nicht helfen durfte oder konnte.
„Möchtest du einen Kaffee, Gem?“, wandte er sich nun direkt an sie und sie überlegte kurz.
„Nein, vielen Dank.“
„Kaltgetränk?“
„Habt ihr Jameson Black Barrel im Haus?“, sprach sie Tiara und diese biss sich auf die Unterlippe, da sie nicht wusste, wovon Gemma da gerade sprach.
Zane grinste amüsiert und erinnerte sich daran, dass sie diesen Whiskey im ZEE an der Bar hatten, dieser jedoch nur ganz selten bestellt wurde.
„Unten. Sogar reichlich davon“, half er aus und verschränkte seine Arme vor der Brust, während er sich mit der Hüfte gegen die Anrichte hinter sich lehnte. „Aber willst du um diese Zeit wirklich schon welchen trinken?“
„Eigentlich nicht. Aber ich glaube heute Abend werde ich das definitiv tun.“
„Du magst also die Noten von Aprikosen, Vanille, Grießpudding und einer Spur Erdbeere in Kombination?“, erkundigte er sich interessiert und Tiara war verblüfft, dass er direkt wusste von was Gemma da gerade gesprochen hatte. „Ein milder und weicher irischer Whiskey mit würzigem Abgang. Interessant.“
„Woher weißt du auf Anhieb wie der Whiskey schmeckt, Zane?“
Tiara band sich ihre Haare zu einem nachlässigen Dutt im Nacken zusammen und betrachtete ihn aufmerksam dabei, da er nicht sofort antwortete und vor sich hinschmunzelte, wobei er weiterhin Gemma im Blick behielt.
„Elisa und Gem haben ihn damals hin und wieder gemeinsam getrunken, wenn sie sich mal wieder angezickt hatten“, antwortete er schlussendlich doch und sah seine zukünftige Schwägerin amüsiert an und hörte Gemma leise schnaufen.
„Wir haben uns nicht angezickt, sondern eine Grundsatzdiskussion geführt, Zane“, korrigiert sie ihn und verschränkte die Arme unter ihrer Brust. „Du weißt, dass der Umgang mit ihr nicht immer ein leichter war.“
„Dir mache ich auch gar keinen Vorwurf. Du warst in den meisten Fällen sogar im recht.“
„Ach so?“, war sie nun doch erstaunt und runzelte die Stirn ein wenig. „Ich wusste gar nicht, dass du das so siehst.“
„Ihr sprecht nicht so viel miteinander, kann das sein?“, mischte Tiara sich belustigt ein und nahm die Tasse mit dem Tee, welcher nun eine angenehme Temperatur zum Trinken hatte. „Vielleicht solltet ihr heute Abend beide nicht arbeiten, sondern zusammen einen Black Barrell trinken und euch mal aussprechen. Immerhin habt ihr euch sehr verhalten benommen bevor Gem nach Seattle geflogen ist und du den Flug nach Hause genommen hast, Zane.“
Mit einem prüfenden Seitenblick auf ihn stellte Tiara triumphierend fest, dass er sich in seiner Ehre angegriffen fühlte – worauf sie tatsächlich spekuliert hatte. Sie erinnerte sich nur zu gut an die Worte während ihres kleinen Umzugs, bei dem Gemma und Zane tatkräftig geholfen hatten und grinste innerlich, zeigte nach außen hin jedoch einen neutralen Ausdruck zur Schau. Wie war das doch gleich?
„Hey“, Gemma, die ihre Fäuste in die Hüften gestemmt hatte, legte Einspruch gegen Zanes Aussage ein, dass Ethan keine weiblichen Personen an sich herangelassen hatte, bis Tiara auf der Bildfläche erschienen war und funkelte ihn herausfordernd an. „Bin ich etwa nicht weiblich?“
„Du bist unsere Cousine und somit ein Neutrum, Gem“, hatte er amüsiert gegrinst und Tiara verlagerte ihr Grinsen nach innen. „Würden wir dich als weiblich betrachten, hätten wir ein klein wenig Erklärungsnot.“
„Weil?“, wollte Gemma damals wissen und verschränkte beleidigt die Arme unter der Brust.
„Ich dich dann vernaschen und danach zum Traualtar führen würde, nur um dich in unserer Hochzeitsnacht wieder zu vernaschen. Aber da du meine Cousine bist, fällt das natürlich sowas von weg“, erwiderte er wie selbstverständlich, während Gemma alles aus dem Gesicht gefallen war.
„Du würdest mich abschleppen und ehelichen?“
„Wärst du nicht meine Cousine, jep“, sagte er, sichtlich belustigt. „Bist du aber. Also bist du raus und ein Neutrum.“
Nur hatte Tiara ein gravierendes Problem, denn Gemma hatte ihr das Versprechen abgenommen, Ethan und Zane nichts von dem zu erzählen, was sie ihr anvertraut hatte. Und für Zane war Gem noch immer seine Cousine, die er infolge dessen als eine Art Neutrum betrachtete. Warum auch sollte er sie anders sehen, auch, wenn er gern mit ihr flirtete. Eine Beziehung käme unter diesen Bedingungen für ihn niemals auch nur ansatzweise infrage. Wenn eine Frau ihn zähmen und halten konnte, dann setzte sie ihr gesamtes Gespartes auf Gemma Lawrence, denn diese gab ihm gerade heraus Kontra und hielt ihn in der Spur, wenn er wieder mal über die Stränge schlagen wollte.
„Ich bin mir sicher dass du in einem weißen Hemd und einer dunklen Jeans mindestens genau so attraktiv aussehen wirst wie dein Bruder“, lächelte sie und hob beide Augenbrauen an, während sie ihm einen herausfordernden Blick zuwarf, den er mit schmalen Augen erwiderte.
„Noch besser“, strotzte er vor Selbstbewusstsein und sie wusste, dass sie ihn an der sprichwörtlichen Angel hatte. „Warte nur ab, liebste Schwägerin. Du wirst schnell merken, dass du dir den falschen Bruder ausgesucht hast.“
Ein leises genervtes Stöhnen kam aus Gemmas Richtung und beide konnten noch ihr Augenrollen sehen, ehe ihre Miene wieder neutral wurde und sie mit der Hand in der Luft herumwedelte.
„Dann sollte ich mich umziehen fahren.“
„Brauchst du gar nicht. Diesmal bin ich damit dran dir etwas zu leihen.“
„Ich bin gespannt, Tia“, erwiderte Gemma mit deutlich hörbarer Resignation in der Stimme und erhob sich ergeben von der Couch. „Dann gehe ich duschen. Bringst du mir das Outfit, was dir vorschwebt dann ins Bad?“
„Natürlich, Gem“, lächelte Tiara zuckersüß und leerte ihre Tasse mit dem restlichen Tee, ehe sie innerlich auf ihrer Checkliste einen kräftigen Haken in das erste Kästchen machte und sich auf den Weg in das Schlafzimmer zu machen.
Zane knurrte leise auf, als die Tür hinter Gemma ins Schloss klickte und nannte sich innerlich einen Dummkopf, weil er nicht von selbst auf diese Idee gekommen war. Was gab es für eine bessere Ablenkung als mit Gemma anzustoßen und sich auszusprechen, so dass sie nicht mehr an das Geschehene von vorhin mit ihrer Mutter dachte? Da musste erst seine einfühlsame Schwägerin einschreiten und ihn auf das Offensichtliche hinweisen.
Versau das heute Abend nicht und reiß dich ein bisschen am Riemen. Es geht um Gem und du willst sie nicht trauriger machen als sie eh schon wegen Tamara ist, richtig? Also fahr deinen Charme hoch, bring sie zum Lachen und lenke sie somit von ihren Sorgen ab. Vielleicht vertraut sie sich dir an und du kannst deinen Fehltritt mit Dexter wieder ausbügeln.
„Challenge accepted“, murmelte Zane entschlossen und ballte eine Hand zur Faust.