Eigentlich wollte er heute trainieren, doch Zane musste zugeben, dass er heute keine große Lust darauf hatte. Normalerweise war er Feuer und Flamme, doch sein Hauptaugenmerk lag aktuell ganz woanders. Auf etwas viel wichtigerem. Etwas fürs ganze Leben. Er wusste er würde nicht für immer so tanzen können wie jetzt, denn die Karriere eines Profitänzers war meistens mit fünfunddreißig vorbei – zumindest in dem Bereich, in dem er wirkte. Aber die Frau fürs Leben zu gewinnen war etwas, für das man nie zu alt war. Zane schüttelte amüsiert den Kopf über sich selbst, da er noch vor ein paar Monaten Ethan aufgezogen hatte, als sie morgens gemeinsam beim Bäcker Brötchen und Croissants gekauft hatten, um mit Tiara und Gemma gemeinsam frühstücken zu können.
„Amors Pfeil hat dich anscheinend ordentlich getroffen, hm?“, zog Zane seinen älteren Bruder grinsend auf.
„Ich dachte damals, Elisa wäre die Liebe meines Lebens und ich werde mich nach diesem Verlust nie wieder so verlieben – bis ich Tiara getroffen habe und mich das Schicksal eines Besseren belehrt hat.“
„Schicksal? Glaubst du an sowas?“, zog der Jüngere der beiden die Augenbrauen zusammen.
„Tiara bedeutet ‚Engel der Zukunft‘ und ich vermute, ich habe sie nicht ohne Grund getroffen. Nicht auf diese Art und Weise. Sie, die zurückhaltende Person, die Fremde nie im Leben auch nur ansprechen würde, wenn sie keinerlei Grund dafür hätte…“, meinte Ethan ernst. „zieht ihre beste Freundin spontan mit sich und gibt sich als meine Freundin aus, nur um mich vor einem Eklat in meiner Lounge zu retten.“
„Wie poetisch“, pfiff Zane anerkennend. „Schreibst du demnächst auch Liebesgedichte oder Lieder über Tia und ihre engelsgleichen Züge?“
„Arsch“, kommentierte der Ältere brummig und Zane streckte ihm seine Zunge entgegen. „Du wirst wohl niemals erwachsen, kleiner Bruder. Ich glaube, ich muss mit Lilli ein ernstes Wörtchen sprechen, sollte das zwischen euch was Ernstes werden. Sie muss dich dahingehend erziehen.“
„Pah – das wird keine Frau jemals schaffen. Mich erziehen… du machst wohl Witze, Ethan.“
Damals hatte er bereits gewusst, dass es nur eine Frau geben würde, die ihm die Flausen aus dem Kopf treiben konnte. Mit Lilli, eine von Tiaras besten Freundinnen, hatte er zwei, drei Dates, jedoch verlor er auch an ihr schnell das Interesse. Bisher war nur eine Frau für ihn interessant: Gem. Und das auf Dauer. Keine hatte ein schöneres Lächeln als sie, keine ein fröhlicheres Lachen welches auch noch ansteckte. Und vor allem hatte keine andere Frau etwas, über das alles entschied… sein Herz. Seine Liebe. Seine Treue. Seine Loyalität. Wenn er liebte, dann war er wie sein Bruder Ethan. Zane liebte ebenso mit jeder Faser seines Seins. Wie sagte Belinda, ihre Mutter, über die Williams-Männer? Wenn sie jemanden liebten, dann ließen sie ihre Frauen nie wieder gehen.
Sein Blick wanderte bewusst zu Gemma, die gerade hochkonzentriert am Schießwagen auf dem Magnifest stand, sich mit den Ellenbogen nach vorn, auf den mit Teppich ausgelegten Tresen stützte und das Druckluftgewehr mit der Schaftkappe gegen ihre rechte Schulter drückte, während sie über Kimme und Korn versuchte die Pyramide anzuvisieren, damit sie diese abräumen konnte. Bisher hatte sie das nie versucht, forderte Zane jedoch schelmisch heraus, welcher bereits seit seiner Jugend regelmäßig Pyramidenschießen betrieb. Ihr Zeigefinger lag am Abzug und sie zog ihn durch. Die Kugel verfehlte knapp ihr Ziel und Gemma wollte das Gewehr nachladen, stellte es jedoch nicht vertikal vor sich auf den Tresen, sondern versuchte es in der nach vorn geneigten Senkrechte, weshalb Zane schräg hinter sie trat, um sie herumgriff und sein Kinn leicht auf ihrer rechten Schulter ablegte.
„Warte, ich zeige dir wie man es richtig macht“, lächelte er an ihrem Ohr und sie unterdrückte ein wohliges Schauern, konzentrierte sich auf seine Hände, welche das Gewehr mit der Schaftkappe nach unten auf den Tresen stellte, damit die Mündung nach oben zeigte und hörte ihm aufmerksam zu. „Beim nächsten Mal klappt es dann allein. Die linke Hand stützt und hält das Gewehr am Vorderschaft, ungefähr so“, erklärte Zane und führte die erwähnte Hand gemeinsam mit ihrer von unten an den Schaft. „Dann nimmst du die rechte Hand und legst den Kammerstängel nach links um, damit du ihn bewegen kannst und ziehst ihn fest nach unten, bis du ein Klicken hörst, damit du ihn wieder nach oben und nach rechts legen kannst. Hältst du das Gewehr nicht in exakt dieser Position, hast du keine Kugeln sondern nur Luft im Lauf.“
Gemma hielt unbewusst den Atem an, da die Luft wie elektrisiert knisterte und spürte jedes einzelne Spiel seiner Muskeln in ihrem Rücken, während er ihr geduldig und mit sanfter Stimme Schritt für Schritt erklärte, wie man das Gewehr entsicherte, lud, wieder sicherte und richtig anlegte, damit sie eine bequemere Haltung bekam. Nun stand er über sie gebeugt, die Hände auf ihren und stützte die nicht gerade leichte Waffe zur Unterstützung.
„Ruhig atmen, linke Hand an die Handstütze unterhalb des Schafts… ja, genau so, Gem, und dann schaust du durch Kimme und Korn am Lauf, visierst mittig und weiter unten die einzelnen Zylinderrollen an, damit sie den richtigen Schwung bekommen“, sprach er weiter und sein warmer Atem streifte ihre Wange, was sie zum Schlucken brachte. „Bevor du abdrückst, hältst du kurz deinen Atem an, sonst verreißt du deinen Fokus. Probiere es aus.“
Nervös biss sie sich auf die Unterlippe, konzentrierte sich auf die unterste Reihe der Pyramide, welche in einem Kasten aufgereiht stand und entschied sich für die mittlere von drei Zylinderrollen in der untersten Reihe. Geduldig zielte sie ungefähr auf die Mitte, hielt den Atem an und drückte den Abzug durch. Diesmal war der Rückstoß weniger heftig und die von ihr anvisierte Zylinderrolle schob sich, durch die Kugel, mit der sie getroffen hatte, ein wenig nach hinten, was ihr ein stolzes Grinsen entlockte und Zane leise lachen ließ.
„Ich hab getroffen“, rief sie halblaut und voller Verblüffung auf und Zane zog sich von ihr zurück, stellte sich wieder rechts von ihr an den Tresen und verschränkte seine Arme vor der Brust.
„Hast du. Und das gar nicht mal so schlecht“, stimmte er ihr zu und seine Augen funkelten voller Stolz, was Gemma jedoch nicht wahrnahm, da sie anhand seiner vorherigen Erklärung das Gewehr neu lud. „Einen Schuss auf die Pyramide hast du noch, dann bin ich dran.“
Sie nahm wieder ihre Position ein und Zane ließ langsam seinen Blick über ihren Rücken gleiten, betrachtete unauffällig ihre Kehrseite und stöhnte innerlich, bei dem Gedanken daran, dass er gerade von der Hüfte bis zur Brust über sie gebeugt gestanden hatte. Hätte sie ihren verführerischen Hintern auch nur ansatzweise bewegt, wäre seine Erregung ganz deutlich für sie zu spüren gewesen. Nur die Erklärung des gesamten Vorgangs am Gewehr hatte ihn stark genug abgelenkt nicht hart zu werden und sich an sie zu drücken.
Sie drückte ab und die oberste der sechs Zylinderrollen fiel mit einem lauten metallenen Klirren nach hinten weg. Gemma legte das Gewehr ab und stieß eine kleine Siegerfaust in die Luft, was Zane zum Grinsen brachte. Dann schob er sie sanft mit seiner Hüfte und einem neckenden „Mach Platz, Lady“ nach links weg und nahm das Gewehr zur Hand, um es zu laden. Gemma betrachtete ihn neugierig und er wartete geduldig, bis der Betreiber die Pyramide wieder aufgestellt hatte und ihm das Go für seinen Versuch gab. Zane legte das Gewehr im Stand, mit leicht auseinander gestellten Beinen, an seine Schulter an, visierte über Kimme und Korn die untere mittlere Zylinderrolle an, atmete ein, schoss, und atmete ruhig wieder aus.
Die Pyramide fiel in sich zusammen und er stellte das Gewehr mit der Schaftkappe auf dem Tresen ab und hielt es am Lauf fest. Der freundlich lächelnde ältere Schausteller stellte die Pyramide wieder auf und trat zu Zane und Gemma während er grinste.
„Wollen Sie auf die Röhrchen schießen, junger Mann? Die Pyramide haben Sie bereits abgeräumt. Oder möchten Sie weitere Punkte sammeln?“
„Ich sammle weiter Punkte. Und nehme zehn Schuss auf die Zielscheiben – unverdeckt, bitte“, erwiderte Zane nach kurzem Abwägen und einem Blick auf Gemma. „Du fängst an, Gem.“
Er lud das Gewehr für sie durch und reichte es ihr mit einem auffordernden Lächeln. Sie nahm es entgegen, stellte sich wieder in die übliche Grundposition und zielte auf die Scheibe, welche vor dem Kugelfang hing, ehe sie den Atem anhielt und schoss. Nach weiteren vier Schüssen reichte sie das Gewehr wieder an Zane, der durchlud und in aufrechter Haltung seine fünf Schüsse auf die neu gesteckte Zielscheibe abgab. Danach legte er das Gewehr auf den Tresen, ließ sich seine Zielscheibe reichen und legte sie neben die von Gemma.
„Dreiunddreißig Punkte, nicht schlecht“, meinte Zane anerkennend und reichte ihr die Zielscheibe, welche er zwischen Zeige- und Mittelfinger in die Luft hielt.
„Du hast jedoch sechzig Punkte… volle Punktzahl“, erwiderte sie und zog einen gespielten Schmollmund, welcher ihm ein Auflachen entlockte. „Eindeutiger Gewinner – mal wieder.“
Schmunzelnd wandte er sich an den Schausteller und ließ sich die Gewinne zeigen, für die ihre Punkte ausreichten. Der ältere Herr stellte außerdem mehrere Körbe mit Scherzartikeln, Schlüsselanhängern und anderen Krimskrams vor die beiden und Gemma wühlte ein wenig in ihnen herum, ehe sie ein eine LED-Leuchtbrille und eine dazu passende Krawatte herauszog und grinste. Zane stöhnte leise auf und sie trat einen Schritt zurück, um die Ausbeute aus der Folie zu schälen, während er sich zielsicher ein paar Plüsch-Handschellen aus Metall schnappte und bei dem freundlichen Schausteller die Schüsse zahlte.
Die Handschellen ließ er in den Weiten seiner Bermuda Shorts verschwinden und drehte sich dann wieder zu Gemma um, die näher an ihn herantrat, sich ein wenig auf die Zehen stellte, damit sie ihm die Krawatte locker um den Hals hängen und die LED-Brille auf die Nase setzen konnte. Er sah aus wie einer von den Men in Black welcher auf der Kirmes gestrandet war.
* * *
Jack nahm Louisa behutsam die Wohnungsschlüssel aus der Hand, da sie vollkommen aufgelöst war und sie kaum aus der Tasche bekommen hatte. Auf dem Weg hatte sie kein Wort gesprochen sich von ihm führen lassen, was die Sorge um sie ihn ihm steigen ließ. Er hatte ihre Wohnung komplikationslos dank des Namensschilds gefunden und schloss die Tür auf, damit er sie sanft in ihre vier Wände schieben konnte, indem er eine Hand in ihren unteren Rücken legte und sie dort liegen ließ, während er ihr folgte. Die Tür klickte leise ins Schloss und sie blieb im Flur stehen, rührte sich nicht vom Fleck.
Da Jack sich nicht auskannte, wollte er nicht so einfach herumspazieren.
„Louisa, wo ist dein Wohnzimmer?“, fragte er sie mit sanfter Stimme und sie warf ihm einen unsicheren Blick zu. „Ich möchte dir nichts vorschreiben und es liegt mir auch fern dich zu bevormunden, allerdings würde ich es begrüßen, wenn du dich setzt und etwas trinkst. Ich bleibe auch nicht lang. Mir liegt es am Herzen, dass du sicher bist.“
Etwas, von dem er glaubte es sei Hoffnung, schimmerte kurz in ihren Augen auf und er seufzte innerlich. Natürlich hoffte sie, dass er schnell wieder verschwinden würde, damit sie allein sein konnte. Schließlich war er für sie quasi ein Fremder, welcher sich einfach ungefragt in ihr Leben einmischte und nun auch noch wie selbstverständlich in ihre Wohnung mitgekommen war. Sie ging in die Richtung, in der er ihr Wohnzimmer vermutete und folgte ihr vorsichtig damit er sie nicht doch noch erschreckte oder verängstigte. Ihre Erfahrungen mit Männern schienen durch die Bank weg schlecht gewesen zu sein und er hatte berechtigte Bedenken, dass sie von ihm ebenfalls nichts gutes erwartete. Dennoch würde er ihr beweisen, dass er anders war.
Mit einem aufmerksamen Blick stellte er fest, dass sie eine offene Küche besaß, welche am Wohnzimmer grenzte und machte einige lange Schritte zum Kühlschrank, aus dem er eine Flasche Mineralwasser nahm und systematisch die Hängeschränke öffnete, bis er im zweiten Schrank die Gläser und Tassen fand. Die Flasche hatte er in der einen und das Glas in der anderen Hand, kam zur Couch, auf der sie bereits saß und stellte das leere Behältnis auf den kleinen Couchtisch, damit er ihr etwas einschenken konnte, ehe er die Flasche wieder verschloss, sie auf den Tisch stellte und sich, mit ein wenig Abstand zu Louisa, ebenfalls auf die Couch setzte.
„Vortice, ...“, setzte er behutsam an und wollte gerade weitersprechen, als sie urplötzlich aufstand und das Wohnzimmer verließ, während er ihr wortlos hinterhersah.
Er konnte leise Geräusche aus einem der Nebenräume vernehmen und fragte sich, was sie tat, blieb jedoch still sitzen und beugte sich ein Stück weit nach vorn, um sich mit beiden Händen durch die Haare zu streichen. Sein Blick verweilte nachdenklich auf dem Boden zwischen seinen Füßen, welcher aus hellem Laminat bestand und fragte sich bereits zum wiederholen Male, wie manche Menschen solch Abschaum sein konnten. Jack verspürte das starke Verlangen Louisa zu beschützen und würde diesem Sebastian am liebsten eine gehörige Abreibung verpassen, kämpfte dieses Verlangen jedoch nieder und seufzte leise auf.
Glas zerbrach, Metall klirrte und er schnellte von der Couch hoch, um nachzusehen was passiert war. Sein Blick fiel auf einen Metallbecher, der im Flur lag, überall verteilt sah er Make-Up Pinsel, eine Bürste und Lippenstifte, dazwischen Glassplitter in den kleinsten und feinsten Variationen, welche unter seinen Schuhsohlen knirschten, als er eilig das große Badezimmer betrat und Louisa zusammengekauert in der geräumigen Dusche in der Ecke sitzen sah. Sie trug mittlerweile eine lange Sommerhose und ein weites Shirt, musste sich also vorher umgezogen haben. Die Beine hatte sie an die Brust gezogen, umschlang ihre Knie und hatte das Gesicht dazwischen vergraben.
Sein Blick ging zum zerbrochenen Spiegel über dem Waschbecken, in welchen sie vermutlich den Metallbecher geworfen hatte. Auch auf den Fliesen im Bad lagen überall verstreut Splitter. Er betrat langsam die ebenerdige Dusche, ging neben ihr in die Hocke und gab ihr die Zeit sich an seine Gegenwart zu gewöhnen, ehe er leise, mit weicher Stimme, ihren Namen sagte und abwartete.
„Du bist noch hier…“, hörte er sie nach einem Moment leise sagen und konnte die Verwunderung herausfiltern.
„Warum sollte ich einfach ohne ein Wort gehen?“, wollte er erstaunt wissen und beobachtete sie aufmerksam, um keine noch so kleine Reaktion ihrerseits zu verpassen.
Sie wollte den Kopf heben, traute sich jedoch nicht, denn wenn sie ihm nun in die Augen schauen würde, würde er die echte Louisa sehen. Damit sie das Gefühl loswurde, ausgelöst durch Sebastians Berührungen, hatte sie sich umgezogen und angefangen sich abzuschminken, nur um festzustellen, dass ihr die schwache, furchtbar hässliche Louisa im Spiegel entgegenstarrte, welche immer von ihm belächelt wurde. Ungeschminkt und in Wohlfühlklamotten war sie in seinen Augen nichts wert gewesen. So auch an dem einen besagten Tag, an dem er sie in den Heizungskeller brachte, um der Welt zu demonstrieren, wie wenig Wert sie besaß.
„Und das, obwohl du gehört hast was ich bin?“, stellte sie die Frage, die ihr auf der Seele brannte.
„Du bist Louisa. Eine wundervolle Frau, die ich gern besser kennenlernen würde, damit ich sie verstehen kann. An dir ist nichts was mich abschrecken würde“, erwiderte er mit einem ernsten und aufrichtigen Unterton in der Stimme und sie schluckte trocken.
Mit einem tiefen Seufzer biss sie sich leicht auf die Unterlippe, hob langsam ihren Kopf und sah ihm dann in die Augen. Jacks Atem stockte und seine Augen weiteten sich überrascht, als sie ihn so unvermittelt anschaute.
„Siehst du, du schreckst auch vor mir zurück, Jack. Es ist okay, ich bin es gewöhnt…“
Er drückte sich aus der Hocke heraus und trat über die knirschenden Splitter des Spiegels an das Waschbecken, griff nach den feuchten Abschminktüchern, welche er dort hatte liegen sehen und trat wieder zu ihr, streckte ihr seine Hand mit einer undeutbaren Miene entgegen und half ihr auf, als Louisa ihre Hand in seine legte. Nun ließ er ihre Hand langsam los, zog eines der Tücher aus der Verpackung und wischte ihr damit behutsam das restliche Make-Up aus dem Gesicht. Mit einem weiteren Tuch entfernte er auch die letzten Reste des dunkelroten Lippenstifts und legte dann alles beiseite, um sie eingehend zu betrachten, hielt dabei mit Daumen und Zeigefinger sanft ihr Kinn fest und drehte ihren Kopf leicht in alle Richtungen.
„Ich bin lediglich fasziniert von deinem hübschen Gesicht. Du hast hellgrüne Augen, keine dunkelbraunen… warum die farbigen Kontaktlinsen, Vortice?“, reagierte er nun endlich auf ihre letzte Aussage und blickte ihr tief in die Augen. „Und du hast wundervolle Sommersprossen, die du nicht überschminken solltest.“
Voller Erstaunen starrte sie Jack an, der ganz und gar nicht von ihr abgeschreckt zu sein schien und sie mit ehrlicher Bewunderung betrachtete.
„Weil ich mich ganz und gar nicht hübsch finde und andere auch nicht“, gab sie ausweichend zur Antwort und wich seinem Blick verlegen aus. „Deswegen Kontaktlinsen.“
„Halt dich an mir fest, hm?“, sagte er und umfasste ihre Taille. „Ich bringe dich hier aus. Du bist barfuß und es liegen überall Scherben auf dem Boden.“
„Aber…“, wollte sie protestieren, als er sie auch schon anhob und sie automatisch ihre Arme um seinen Nacken und ihre Beine um seine Hüften schlang. „Jack, was tust du?“
Erheitert schmunzelte er und ging mit ihr ins Wohnzimmer, wo er sich mit ihr auf die Couch setzte und ihr Gesicht sanft zwischen seine Hände nahm, damit ihr er ihr intensiv in die Augen schauen konnte. Ihre hellgrünen Augen hatten einen leichten Braunton inne und er glaubte, dass man diese Konstellation Hazel Eyes nannte. Bislang kannte er diese Farbgebung nur von Erzählungen und war fasziniert von ihnen, besonders, da sie einer Frau gehörten, der er langsam aber sicher sein Herz schenkte. Louisa weckte seinen Beschützerinstinkt und er wollte dass es ihr gut ging.
„Egal was passiert ist oder die Leute über dich sagen – es ändert nichts daran, dass ich dich daten und mit dir gesehen werden möchte. Ganz gleich, ob du geschminkt oder ungeschminkt bist, Vortice. Du interessierst mich wie keine andere Frau vorher.“
Sie wollte ihm glauben, denn sie mochte ihn sehr und fragte sich, ob er wirklich meinte was er sagte. Leider erzählten Männer vieles, wenn sie an eine Frau herankommen wollten, um sie danach wie eine heiße Kartoffel fallenzulassen, wenn sie bekommen hatten was sie sich wünschten. Jack hingegen scheute sich nicht sie zu verteidigen, ihr zu helfen und ihr zu sagen, wie schön er sie fand. Bislang hatte sie solche Worte im Zusammenhang mit ihrem eigenen Aussehen noch nie gehört. Natürlich schon, wenn sie sich schminkte und die farbigen Kontaktlinsen einsetzte, weshalb sie so seit einer ganzen Weile bereits in der Öffentlichkeit so herumlief.
„Bist du dir sicher, dass du mit jemandem ausgehen willst, den sie Schlampe rufen? Der sie unterstellen, sie hätte Geld dafür genommen, damit man solche Fotos und Videos von ihr machte?“, wagte sie nach einem Zögern zu fragen und kaute leicht auf ihrer Unterlippe herum, fixierte einen unbestimmten Punkt auf seinem markanten Unterkiefer. „Der sie Geld anbieten, damit sie das Gleiche auch tun können?“
Jack unterdrückte mit aller Macht ein tiefes und wütendes Grollen, um sie nicht zu erschrecken und hielt sich zurück, damit er keine Fäuste ballte. Wenn die Menschen so mit ihr umgingen, sie so entwürdigend behandelten, wunderte es ihn nicht, dass sie sich verstellte und eine Rolle spielte. Wie sie sich Zane anbot und um seine Aufmerksamkeit bettelte; egal mit welchen Mitteln. Die Ohrfeige, welche sie Gemma verpasst hatte, weil Zane ihr mehr Aufmerksamkeit zukommen ließ als ihr, die mit ihrem Aussehen absolut unglücklich war. Irgendwie konnte er sie jetzt sogar verstehen, was die Taten jedoch nicht rechtfertigte oder entschuldigte.
„Du wirst von mir nichts anderes als ein Ja hören, Bellezza“, beteuerte er mit einem offenem Blick und schenkte ihr ein aufrichtiges Lächeln. „Ich wäre ein Idiot, wenn ich mich mit einer Schönheit wie dir nicht auf offener Straße sehen lassen würde. Wer es wagt etwas zu sagen, der bekommt es mit mir zu tun – versprochen.“
* * *
„Du bist überhaupt nicht überrascht“, stellte Tiara irritiert fest und konnte keinerlei Anzeichen dafür finden, dass Ethan in irgendeiner Form reagierte, als würde ihn schockieren was er hörte.
„Das weiß ich schon seit einer ganzen Weile“, erwiderte er dann und lächelte entspannt. „Also nichts, was mich jetzt verwundern würde.“
„Was? Aber, … warum sprecht ihr denn dann nicht darüber?“
„Wenn mein kleiner Bruder nicht auf mich zukommt, werde ich ihn nicht bedrängen, Honey. Er ist alt genug, um seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Und wenn er mit niemandem darüber sprechen möchte, dann akzeptiere ich das so“, gab er schlicht seine Erklärung ab und grinste dann. „Allerdings sollte deine verirrte Nachricht ihm nun in die Karten spielen, denn sein Herz gehört Gem. Dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen.“
„Seit wann weißt du es?“, war Tiara nun neugierig und lehnte sich näher zu ihm, während er seine Arme fester um ihren Körper legte, indes sie noch immer auf seinem Schoß saß.
„Erinnerst du dich noch an den Tag in deiner Wohnung, als wir deine Sachen geholt haben und Gem von Zane in die Mangel genommen wurde, weil sie uns die gute Laune nicht verhageln wollte?“
„Die Sache mit Dexter?“
„Richtig. Als du mit Gem los bist und ich wieder hochgegangen bin, haben wir uns unterhalten, nachdem er vor Wut fast explodiert wäre. So sauer war ich, als Paul dich angegriffen hat und du mich zurückgehalten hast ihn windelweich zu prügeln“, erklärte Ethan ihr und sie runzelte die Stirn.
„Du meinst, er war damals nur so wütend, weil er sie liebt?“
„Ja. Zane wird weich, wenn Gem ihn zurückhält etwas dummes zu tun, weil er wütend ist. Das war schon immer so. Auch konnte er Dexter nie wirklich leiden und hat immer nur gute Miene zum bösen Spiel gemacht“, kann er sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Als Schluss war, kam er mir ziemlich erleichtert vor, obwohl es ihn natürlich doch berührt hat, dass Gem leidet.“
Tiara lachte leise auf, schüttelte dabei ihren Kopf und lehnte sich zurück, um Ethan anzuschauen.
„Jannis und ich haben schon Pläne geschmiedet, wie wir Zane und Gem einander unauffällig näher bringen, was das anbelangt.“
„Er weiß davon, dass wir mit Gem nicht verwandt sind?“
„Nein. Aber er hat gespürt, dass es für Zane wohl niemals eine andere als Gem geben wird und wollte ihn unterstützen.“
„Würde er nicht wissen, dass er sie nun ganz offiziell erobern kann, würde er es nicht tun, Honey“, lächelte Ethan Tiara liebevoll an. „Wobei ich mir nicht sicher bin, ob er seinen Kopf soweit ausschalten kann, dass er auch um sie wirbt. Immerhin ist er sechsundzwanzig Jahre in dem Glauben aufgewachsen, wir wären alle drei miteinander verwandt.“
„Aber tief in seinem Inneren wusste er schon länger, dass sie es nicht sind, sonst hätte er sein Herz nicht an sie verloren, meinst du nicht auch?“, erwiderte sie schmunzelnd. „Oder hast du jemals gedacht, du würdest dich in sie verlieben?“
„Nein, auf gar keinen Fall“, entgegnete er mit hochgezogenen Augenbrauen vehement.
„Siehst du. Sein Herz wusste bereits was Phase ist, ehe er es nun von mir… mehr oder weniger… offiziell erfahren hat. Vielleicht ist das auch dein guter Freund Schicksal gewesen, der da seine Finger mit im Spiel hat.“
Lachend küsste er ihre Nasenspitze und schüttelte erheitert seinen Kopf.
„Du bist wirklich unverbesserlich, weißt du das?“
„Das hast du bereits einige Male durchblicken lassen.“
Das Piepen von Tiaras Handy lenkte die Aufmerksamkeit beider auf das Gerät, welches auf dem Couchtisch lag und Tiara reckte sich ein klein wenig, damit sie es greifen und nachschauen konnte, wer ihr da eine Nachricht geschickt hatte.
„Jannis“, informierte sie ihn und grinste verschwörerisch, nachdem sie die Mitteilung geöffnet hatte. „Es gibt Neuigkeiten.“
Sie drehte das Handy mit dem Display zu Ethan und lachte leise, als er einen leisen Pfiff ausstieß und dann den Blick zu ihren Augen hob. Es handelte sich hierbei um ein Foto, welches eindeutig Gem auf Zanes Schoß im Tagada zeigte, die sich innig küssten und alles um sich herum vergessen hatten.
„Ich hätte nicht gedacht dass er direkt in die Vollen geht“, kommentierte er das Bild nachdenklich.
„Jannis und ich haben einen kleinen Plan geschmiedet… welcher beinhaltete, dass er mit dem Schausteller spricht, welcher das Tagada betreibt. Es handelte sich um die letzte Fahrt vor Tagesabschluss, die nur Gem und Zane mitgemacht haben. Und da wir wissen wie fit Zane ist, hat der Betreiber gemeinsam mit Jannis die volle Fahrt angesteuert, damit das Adrenalin in Wallung kommt“, gesteht Tiara und beißt sich leicht auf die Unterlippe.
„Ihr habt was?“, fiel Ethan fast die Kinnlade runter. „Es ist gefährlich in diesem Teil… selbst für Zane, der trainiert ist. Was wäre gewesen, wenn Gem etwas passiert wäre und er ihr nicht hätte helfen können?“
Zerknirscht blickte sie ihn an und er seufzte leise, weil er ihr nicht wirklich böse sein konnte, denn sie und Jannis hatten es ja nicht böse gemeint.
„Es tut mir leid“, sagte sie leise und er drückte ihr einen sanften Kuss auf die Lippen.
„Ich weiß ihr habt es nur gut gemeint. Aber bitte, Honey, unterlasst in Zukunft solche Sachen, hm? Nicht dass sich jemand verletzt oder anderweitig zu Schaden kommt.“
„Versprochen“, lächelte sie und legte das Handy beiseite, um ihn von der Couch ins Schlafzimmer zu ziehen. „Und nun lass uns eine Runde kuscheln, ich habe Sehnsucht nach dir.“