Der ganze obere Kranz lag im Dunkeln. Henry stand in einer Ecke und rührte in einer Tasse Tee. Juliet lächelte und zupfte sich nochmal den seidenen Umhang zurecht. Meine Miniyana kicherten verhalten, weil sie ja gleich die Neue auffangen sollten, eine Feuerprobe sozusagen. Als sich im Lift was regte, verschwanden alle Geister in den Schatten. Lily trat aus dem Schacht, etwas unbeholfen, wie ich fand. Sie war den Sprung durch die Schwerelosigkeit noch nicht gewohnt. Das folgende würde sie wohl auch befremdlich finden.
"So, ich bin hier. Und jetzt?"
"Jetzt warten wir", sagte ich und sah auf meine Uhr.
"Und auf was?"
"Auf die Geisterstunde, natürlich", grinste Henry. "Wir haben Halloween, das Schiff wurde zum Teil aus alten Wracks gefertigt, da muss man mit sowas rechnen."
"Aber klar, Opa, Geister. Auf einem neuen Schiff. Verarschen kann ich mich alleine."
Sie drehte sich um und erschrack sofort. Hinter ihr waren die Miniyana in einem Tuch aufgetaucht.
"Okay, wer steckt darin?", fragte sie belustigt und zog am Stoff, den sie damit einfach nur in der Hand hielt.
"Netter Trick", stellte sie mit einer Spur Unsicherheit fest. Hinter ihr war ein Klicken zu hören, dass alle Geländer verschwinden ließ. Plötzlich erhob sich von unten Geschrei. Eine Frauenstimme wurde lauter, als sie bei uns ankam, sah man gruselige Gestalten an Red zerren. Glühende Augen leuchteten hinter weissen Tüchern. Fast alle in strahlenden Gelb, was mir und Henry ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Meine Hand indes umklammerte Lilys Oberarm. Gebannt verfolgten wir, wie die wehenden Gestalten einfach mit Red in die Luft hinaus schritten.
"Das könnt ihr doch nicht zulassen."
"Lemur quos vocavi", bemerkte Henry und schlürfte an seinem Tee.
"Die Geister die ich rief wird aber anders übersetzt", bemerkte ich.
"Sagen wir einfach, mein Latein ist eingerostet", zuckte er mit den Schultern und sah zu, wie die kleinen Geister Red losließen und die schreiend in der Tiefe verschwand.
"Wie könnt ihr das zulassen?", fragte Lily, als nun die kleinen Geister genau auf sie zusteuerten.
"Wie soll ich sagen, das ist der ultimative Raumfahrertest", stellte Henry fest. "Normal würde der in einem zwei Kilometer tiefen Schacht auf Green durchgeführt. Hier haben wir sowas nicht und du hast dich zudem hier als blinder Passagier eingeschlichen. Laut einem Funkspruch deiner Mutter sollst du sofort nachhause kommen. Das wird sich jetzt wohl auf mindesten drei Monate verlängern... Oder wie beim letzten mal, ein Jahr. Deswegen muss du jetzt dich den Geistern der Pi-Hydra stellen und hoffen, dass sie dir holt sind, auf den nächsten zweihundert Metern. Tiefer ist das hier nämlich nicht."
"Opa bitte.", flehte sie.
"Auch wenn ich mich freue, dass du es bist und nicht dein langweiliger Bruder, kann ich nicht umhin, dass du eigentlich nicht das getan hast, was von dir verlangt wurde. In alten Zeiten wurden Matrosen dafür auf die Planke geschickt. Die haben wir hier nicht, dafür alte Matrosen", er lächelte.
Auch Lily schrie und bettelte, als sie von der Schar kleiner Geister zur Kannte und darüber hinaus gezerrt wurde. Wir folgten ihr. Die wilden Miniyana von Shima übernahmen heimlich unseren Flug durch die Schwerelosigkeit und leuchten gleichzeitig mir und Henry unters Gesicht. Der stellte nun mitten in der Luft seine Tasse ab.
"Bereit zu fliegen?", wollte er von seiner Urenkelin wissen. "Beim letzten mal war es ja nicht ganz so glücklich."
"Ihr lasst mich fallen?"
"Wie du weisst, haben wir eine exzellente Krankenabteilung und einen wirklich guten Arzt für Exomedizin. Der flickt dich schon zusammen, zur Not auch mit teilen von der anderen", ich drehte mich zu Henry. "Lust?"
"Immer doch, Jungs? Es geht los."
Eigentlich war es unfair. Hier im Zentralen Schacht herrschte wie im Lift keine Schwerkraft. Man musste von den Miniyana beschleunigt und wieder gebremst werden. Oder man blieb jetzt wie Lily einfach schreiend in der Luft hängen, während alle um sie herum Richtung Boden stürzten. Es dauerte etwas, bis sie begriff, dass gar nichts passierte. Meine Miniyana schwebten um sie herum und warteten auf ein Zeichen für den Flugstart.
Red indes schwebte mit einem Grinsen zwei Meter über den Sandburgen.
"Meine Miniyana sind Verräter", grinste sie. "Aber ich habe mitgespielt."
"Womit hast du sie so schnell bestochen?"
"Häggies. Funktioniert fast so gut wie Labskaus."
"Selbst gekocht?", fragte ich.
"Ich bin eine rothaarige Exaustralierin, was denkt ihr?"
"Ich denke an schottische Vorfahren", bemerkte Henry. "Ich freu mich auf deine Küche." Er sah nach oben. "Lily, lange genug da oben herum geschwebt?"
"Ich komm hier nicht weg."
"Dann sag es ihnen."
"Wem?"
"Sag den Geistern, dass du fallen willst."
"Ich will aber nicht fallen, nur runter."
"Ich glaube, wir sollten ihr helfen", bemerkte Juliet mit dem Blick nach oben. "Minis? Abflug."
Und mit einem begeisterten Hui steuerte die Wilde Bande wieder den Lift an. Inzwischen schwebte Alice zu uns.
"Schatz? Die Kinder müssen ins Bett, wie lange willst du sie noch aufputschen?"
"Bis Lily sich traut. Die kleinen Geister werden danach bestimmt gut schlafen."
"Dein Worte wirst du noch verfluchen", bemerkte sie.