Die Geschichte mit dem Dartspiel ging mir auch nach Tagen nicht aus dem Kopf. Einen handfesten Streit herauf zu beschwören, weil sich Lily über unsere Sprechweise lustig machte, das war nicht Juliet, die eher schlichtete. Keiner meiner Kinder war auf Konfrontationskurs. Der Traumstein war mit ein Grund dafür. Wenn du jeden Abend deine Gefühle mit der Familie austauschst, dann gab es keine Streitthemen mehr. Also warum hatte es Juliet getan? Warum hatte sie damit auch ihren Verehrer brüskiert?
Es hatte funktioniert. Mogon fand es unmöglich von Juliet, dass sie Lily vor allen so vorgeführt hatte. Erst dieses offene Angreifen am Frühstückstisch, dann das Duell mit den gezinkten Pfeilen. Juliet hatte es im Vorfeld gewusst, das war offensichtlich gewesen, und hatte eine große Show draus gemacht. Damit war sie bei Mogon unten durch, der dann Lily getröstet hatte. Und Juliet war frei. Sie sollte glücklich über diesen Verlauf sein aber sie wirkte trotzdem ganz anders.
Es war wieder eine unserer abendlichen Nestrunden. Alice erzählte von ihrem Nest, von ihren Geschwistern. Davon, wie sie mit ihnen durch die Bäume getobt war. Alle Kinder hörten zu, nur Juliet nicht, das bemerkten wir alle. Ich sah Juliet im Traum an und dabei bemerkte ich, dass sie einen großen Bereich ihrer Gedanken vor uns abgeschirmt hatte. Ich zog mich mit ihr aus unserer Gemeinschaft zurück und sagte ihr, dass wir spazieren gehen würden.
Unser Weg führte uns eine Zeitlang schweigend durch die Gänge des Schiffes, bis wir zum Zentrum des botanischen Garten gelangten.
Was für die anderen nur eine dunkle Zone war, war für mich von sanften Linien pulsierender Energie durchzogen. So konnte ich jetzt aber auch sehen, dass auch Juliet diese wahrnahm und mit ihnen interagierte.
"Erzählst du mir, was los ist?", fragte ich nun.
Juliet ging weiter mit mir herum und ihre Finger strichen über die Energieknoten der Pflanzen, die dadurch in Schwingung gerieten. Sie war scheinbar noch nicht bereit, von sich aus ein Thema zu wählen. Also suchte ich eines aus.
"Du hast dich von Mogon getrennt, weil du jemand anderen liebst. Und das konntest du ihm aber nicht direkt sagen."
Juliet schüttelte leicht den Kopf.
"Weil es nicht die ganze Wahrheit ist. Ich liebe tatsächlich jemand anderen, glaube ich. Es ist noch frisch. Aber da ist noch etwas anderes. Er würde es nicht verstehen."
"Und wir, deine Familie, auch nicht? Ich spüre deine dunkle Seite jeden Tag deutlicher. Das tun wir alle."
"Ich habe es versprochen, weisst du? Er hat Angst. Weil er ja schon mal versagt hat. Sein Volk hatte doch schon so viele Leben, so viele wichtige Erinnerungen verloren. Die Archive, diese ganzen Leben. Da macht es jetzt keinen Unterschied, dass wir eines davon wiedergefunden haben", ich sah die Verzweiflung in Juliet leuchtenden Augen. Die Wucht dieser Erkenntnis über solch immensen Verluste nagte an Juliets Ausgeglichenheit. "Und jetzt. Er hat so viel in letzter Zeit durch uns erleben dürfen, lernen dürfen und könnte damit Generationen bereichern, aber nur, wenn es in seiner Heimat und bei seinem Volk ankommt."
"Du redest von Cham."
Juliet nickte.
"Hast du noch immer Erinnerungen seines Volkes in dir?"
"Ich habe seine. Ich nehme sie jeden Abend auf. Damit, wenn ihm was passiert, es nicht verloren geht und ich es dem Archiv beifügen kann."
"Und diese Erinnerungen verbirgst du auch vor uns."
"Es sind ja seine. Es sind die für die Mechs. Für sein Volk."
"Und eine andere Möglichkeit gibt es nicht? Immerhin ist doch jetzt ein großer Speicher an Bord."
"Er vertraut den Speichern nicht mehr. Ein Speicher kann nicht weglaufen. Ein Speicher kann sich nicht verteidigen. Er sieht es so, dass wir nur Glück gehabt hatten, dieses eine Archiv zu retten."
Ich blieb stehen. Mein Hirn versuchte aus dem gesagten ein Bild zu formen. Es war das Bild eines biologischen Computers. Sowohl die Menschen als auch Green, die von allen angetroffenen Völkern unseres Abschnittes des Alls am weitesten entwickelt waren, hatten noch binäre Computersysteme. Hologramchipsätze auf oktaler Basis waren gerade mal als Speicher tauglich. Bei den Mechs war ich auch auf Grund ihrer Geheimniskrämerei von einem Computer zu Hirn Interface ausgegangen, dass eine Art Roboter mit einem kleinen Speicherkern steuerte. Das Netz über ihren Hirnen in ihren Glasschutzhauben hatte wie ein Elektroenzephalografie - Haube ausgesehen. Aber wie genau ihr Anzug funktionierte, wussten nur der Doc und Max und beide beriefen sich auf die ärztliche Schweigepflicht. Doch jetzt hatte ich das Gefühl, dass es wichtig sein könnte.
"Was ist mit dem Archiv?"
"Es ist ein totes Ding. Mit Energie versorgt kann es die Erinnerungen an die unzähligen Leben in Balance halten. Bevor sie losflogen, haben sie noch einmal alle ihre Erinnerungen des Volkes in dieses Hochgeladen. Das stellt sicher, dass alle Fähigkeiten auch nach einem Unfall zur Verfügung stehen. Wenn zum Beispiel Beschädigungen am Schiff zu toten Besatzungsmitgliedern führt."
"Geschicktes System", sagte ich mit ehrlicher Bewunderung.
"Er hat mir damals seine wichtigsten Erinnerungen, die er hatte, anvertraut. Die seiner Eltern, Brüder, Schwestern und zehn Generationen seiner Vorfahren. Er hat das unbewusst getan. Es ist einfach passiert. Eigentlich wären diese nicht wichtig genug gewesen. Seine kleine Schwester war gerade mal seit zwei Wochen aufgestiegen und hatte nichts für die Gemeinschaft geleistet. Aber er konnte sie nicht verloren gehen lassen."
Ich dachte an Zero, seinen Mann und an seine Tochter. Er hatte auch so gehandelt.
"Liebst du ihn?", fragte ich Juliet unvermittelt.
"Wie ich Max liebe, wie einen Bruder. Aber er macht meine andere Liebe zu einem Problem. Er ist ein Geheimnis, was ich auch vor ihr habe."
Ich wusste, wen sie mit "ihr" meinte.
"Du hast Geheimnisse vor einer Reporterin, die sowas deutlich merkt?"
Juliet sah mich aufmerksam an: "Seit wann weisst du das?"
"Dass es mehr wurde? Seit du in ihr Zimmer gezogen bist. Ich sag zwar nichts, aber dass es zwischen euch gefunkt hat, das habe ich schon beim Interview gemerkt. Liän, Henriette, Gin und Sogrey haben nun eine reine Mädchen-WG. Nur wo Cham derzeit wohnt, weiss ich nicht. Er kommt immer mal wieder aus euer beider Zimmer, das weiss ich."
"Wir bauen da gerade was für ihn. Ru ist der Anlass. Weil der ja auch ohne seinen Symbionten leben kann. Cham kann das auch. Sein 'Symbiont', wenn man das so sagen kann, ist sein Anzug. Der ermöglicht ihm, sich zu verständigen und die Welt in vollem Umfang zu erfahren, aber er schirmt ihn auch ab. Bei uns lässt er sich fallen. Bleibt sogar mal eine Nacht ohne diesen Schutz. Aber nur mit mir kann er sich verbinden. Bei Red klappt es nicht und sie bleibt bei allem außen vor."
Ich hatte das Bild einer zwei Ecken Beziehung vor Augen mit Juliet in der Mitte. Sie mochte beide, aber sie konnte nur mit einem zu einer Zeit auf seine Art in Verbindung treten.
"Habt ihr den Doc und Max gefragt, ob er euch helfen kann?"
"Was sollen wir die fragen?"
"Ich mein ja nur. Wenn man die Natur, die Biologie eines Wesen versteht, dann findet man auch Wege für eine erfüllte Liebe."
"Ich glaube eher, dass du mir helfen könntest als die. Du siehst das hier doch auch."
Bei dem Satz hob sie ein frei schwebendes Energieband an.
"Die lebende Energie in allen Wesen. Die mineralische Energie des Kerns, von dem hier alles lebt. Die freie Seeleenergie, die ohne eine feste Hülle so leicht vergehen kann, so aufgefasert werden kann, dass sie nicht mehr zu erkennen ist."
Juliet fasste sich an die Stirn und zog sich einen leuchtenden gelben Faden heraus, der schnell von ihr zu einer Kugel geformt und ein unangenehm leuchtender Punkt in dieser Dunkelheit wurde.
"Das bin ich", sagte sie. "Das sind all meine Erinnerungen, alle guten, alle schlechten, all meine Liebe und Trauer. Dieses Bündel würde zerfließen, wenn ich es loslassen würde. Die Mech haben diese Kapseln weitergereicht. Oder sie in einer Matrix gespeichert. Ihre Archive waren mit Milliarden dieser Bündel gefüllt, bis die Quantenblasen die Speicher auf ihrem Planeten zerstört haben. Milliarden Seelen lösten sich unwiderbringlich auf oder verschwammen ineinander."
Juliet ließ die Kugel los und sie löste sich gleich einer kleinen Supernova auf. Ich meinte bei der Berührung mit der Aura ein flüchtigen Moment der Nestliebe zu erkennen, aber er war kaum zu fassen.
"Du hast es gespürt", stellte Juliet traurig fest. "Red kann das nicht."
Das war also das Dilemma meiner Tochter. Sie teilte etwas einzigartiges mit Cham und konnte es nicht mit ihrer Liebe teilen. So wurde die Liebe zu Red zu etwas rein körperlichen. Sie fühlte sich wie zwischen zwei Welten gefangen. Ich sah auf die glühenden Linien in den Strängen dieser Pflanzen, wie sie sich zu den Früchten bewegten und diese einzigartige Energie in diesen speicherten. So wurde diese Fähigkeit an die nächste Generation von Pflanzen weitergegeben und auch an die Wesen, die von ihr aßen. Noch hatten sie diese Wirkung, hatte Chimea erklärt. Das würde nicht ewig andauern, weil Sonnenlicht, wenn es auch nur aus Lampen kam, leichter für die Pflanzen zu verarbeiten war, als die Energie, die aus einer Singularität strömte. Aber noch gaben sie es weiter, wie an meine Kleinen, die hier nach seltenen Tieren unter der Anleitung von Chimea forschten.
Das brachte mich auf eine Idee. Wenn es bei meinen Kindern und auch bei mir funktionierte, warum nicht auch bei Red? Ich pflückte einige Früchte und sagte meiner Tochter, dass es für uns fünf Zeit wäre für Spezialtraining. Sie sah mich verwirrt an.
"Wer sind denn die fünf?"
"Du, Cham, Red, ich und Chimea. Sie muss die Gedankenverschmelzung leiten und das Hirn von Red trainieren. Wir brauchen sie als Mediator und als Mentor. Und sie kennt die Wirkung dieser Früchte."
"Deine Diätshakes?"
"Du wirst es sehen, wenn du mit den anderen zu Chimea kommst."
So schickte ich sie los, während ich eine große Menge der Früchte sammelte und in meinem Hemd verbarg. Sie funktionierten nur im Dunklen. Ihre ganz besondere Wirkung konnten sie nur so entfalten. Im Licht waren sie nur noch lecker.