Author's Note:
Triggerwarnung: Erwähnung von sexueller Gewalt, keine bildliche Beschreibung
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KAPITEL 12
Ein Blick in die Vergangenheit
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„Hey, Ilaria?“, erklang eine mir bekannte Stimme in der Dunkelheit. Ich ließ mich davon jedoch nicht ablenken und ging stur und mit verschränkten Armen weiter. Der Abend war schon schlimm genug. Ich zog meine Nase hoch. Noch einen Mann konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. „Hey, warte doch mal. Es ist spät und dunkel. Soll ich dich begleiten?“
„Nein, lass mich in Ruhe“, antwortete ich trotzig, doch der Mann holte auf. Er legte seinen Arm an meine Schulter, doch ich nahm schnell Abstand zu ihm.
„Fass mich nicht an!“, knurrte ich und schlug dabei seine Hand weg. Da erkannte ich auch, wer mich gerade angesprochen hatte. Es war Matt.
„Okay, entschuldige. Ich dachte nur, dass es sicherer wäre, dich zurück auf dein Zimmer zu bringen.“ Er musterte mich. „Geht es dir gut? Hast du geweint?“
„Diese Partys sind doch total scheiße“, erzählte ich lallend. „Ich wollte gar nicht trinken, aber alle haben es getan und weil ich das tue, was alle anderen tun, wollte ich es dann doch. Und das nur weil ich dumm und unsicher bin und dazu gehören wollte.“ Mit beiden Händen wischte ich mir über die Augen. Sie waren verklebt von Mascara und Tränen. „Aber wenn eine Frau trinkt, heißt das noch lange nicht, dass man sie anfassen darf!“ Ich zeigte auf Matt und nahm noch einen Schritt Abstand. „Niemand darf mich anfassen, außer ich will das.“
„Fuck, scheiße, das tut mir echt leid.“ Matt hob seine Hände, um mir zu zeigen, dass er sich von nun an von mir fernhalten würde. „Geht es dir gut? Hat dir jemand wehgetan?“
Ich schluchzte und wischte mir noch einmal über die Augen. Als ich einen weiteren Schritt zurück machte, stolperte ich und fiel zu Boden. In diesem Moment fühlte es sich so an, als könnte ich nie wieder alleine aufstehen. All die bescheuerten Erinnerungen an diesen Tag holten mich ein. Ich brach in Tränen aus. Ich wollte gar nicht mehr aufstehen. Wozu sollte das denn gut sein?
„Ilaria, darf ich dir aufhelfen?“, fragte Matt mich sanft, als er, mit Abstand zwischen uns, in die Knie ging. „Darf ich?“ Schluchzend nickte ich. Matt griff mir unter die Arme und hob mich wieder auf die Beine. Ich lehnte mich an ihn und strich mein Kleid glatt. „Erzählst du mir, was dir passiert ist? Hat dir jemand wehgetan?“
„So ein blöder Idiot hat mich angefasst“, antwortete ich ihm und deutete in die Richtung, aus der ich gekommen war. „Niemand darf das. Ich will das nicht.“
„Was hat er getan?“
„Ich hab' getrunken“, erzählte ich. „Niemand interessiert sich für betrunkene Mädchen. Wenn wir ein Kleid tragen, dann haben wir es doch gewollt. Das ist so unfair.“ Ich schluchzte und war bereits wieder dabei, das Gleichgewicht zu verlieren, doch Matt hielt mich fest in seinen starken Armen.
„Hat er dich zu etwas gezwungen, was du nicht wolltest?“, fragte er leise nach, worauf ich den Kopf schüttelte.
„Nein, ich hab' ihn gehauen und bin weggelaufen.“ Ich wischte mir über meine Nase. „Dann hat er gesagt … Er hat gesagt, dass ich eine blöde Schlampe bin und keine Ahnung. Ich bin aber nicht blöd und ich bin auch keine Schlampe. Ich bin ein normales Mädchen. Und wir Mädchen dürfen trinken und wir dürfen Kleider tragen und wir sollten uns dabei sicher fühlen. Aber das tun wir nicht. Wir sind unsicher, weil wir angefasst werden. Man tut uns weh, wenn wir nicht aufpassen. Das ist so unfair.“ Ich schluchzte.
„Oh Mann. Hey, kann ich irgendetwas für dich tun? Fühlst du dich in deinem Zimmer sicher?“
„Ich weiß nicht. Ich-Ich bin müde. Und mir ist schlecht.“ Matt strich mir die Haare aus dem Gesicht und sah mich an. „Ich sehe sicher furchtbar aus.“
„Ist doch egal, wie du jetzt aussiehst. Wichtig ist, dass du in Sicherheit bist. Ich verspreche dir, dass ich dir nichts tun werde. Ich mache das, was du für die beste Lösung hältst. Soll ich vielleicht jemanden anrufen? Deine Eltern oder eine Freundin? Soll dich jemand abholen?“
„Ich-Ich … Matt ich muss mich …“
Ich konnte die Worte kaum aussprechen, schon beugte ich mich nach vorne und übergab mich in das grüne Gras, in dem ich eben noch ausgerutscht war. Ich spürte, dass Matt mich stützte und dass er mir die Haare aus dem Gesicht hielt. Viel bekam ich um mich herum nicht mehr mit. Ich war zu müde.
· • ❀ • ·
Als ich aufwachte, lag ich auf einer Couch, in einer mir vollkommen fremden Wohnung. Sofort schreckte ich hoch und zog die Decke, mit der ich zugedeckt wurde, an meine Brust. Verängstigt sah ich mich um, doch ich konnte niemanden entdecken. Ich konnte allerdings etwas hören. Ein Klappern. Kochtöpfe vielleicht?
„Hallo?“, fragte ich eingeschüchtert und fasste mir dann an den Kopf. Auf dem Tisch stand eine Flasche Wasser. Außerdem lag eine Tablette daneben. Die Tablette verschmähte ich, immerhin sollte man nichts nehmen, dass man nicht kannte, doch Wasser würde meinem Kopf jetzt guttun. Angestrengt versuchte ich die Flasche zu öffnen, doch ich hatte keinen Erfolg. Ich rang mich dazu durch, aufzustehen und mich umzusehen.
Das Wohnzimmer war ein wenig unordentlich. An der Wand hingen einige Filmposter von Filmen, die ich nicht kannte. Mit meinem schmerzenden Kopf wollte ich auch nicht weiter darüber nachdenken. Eine Sporttasche mit dem Logo unserer Uni lag auf dem Boden. Wahrscheinlich hatte mich irgendein Student mit nach Hause genommen und ich war zu betrunken, mich daran zu erinnern, wer das war. Noch nie war mir etwas so peinlich gewesen.
Da ich herausfinden musste, wo ich war und bei wem ich war, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. Etwas eingeschüchtert betrat ich die Küche.
„Guten Morgen“, gab ich leise von mir. Als ich Matt erblickte, erinnerte ich mich auch, wie ich hierhergekommen war. Er hatte mich nach dieser schrecklichen Party gefunden. Das war kein Traum, oder?
„Guten Morgen. Wie geht’s dir?“
„Nicht so toll“, antwortete ich ehrlich und fasste mir an den Kopf. Mit der anderen Hand hob ich die Flasche, die ich aus dem Wohnzimmer mitgenommen hatte. „Ich bekomme die Flasche nicht auf.“
„Oh“, gab er überrascht von sich, dann nahm er die Flasche entgegen, um sie für mich zu öffnen. „Ich dachte, dass du dich sicherer fühlst, wenn die Flasche noch verschlossen ist. Gestern auf der Party lief es ja nicht so prickelnd.“
„Ja, ich weiß nicht. Keine Ahnung.“ Verkatert und müde nahm ich die Flasche wieder entgegen und trank davon.
„Willst du etwas essen? Eier sind gut gegen den Kater. Ich mache immer noch Salami rein.“
„Ich bin Pescetarierin.“
„Was ist das denn?“, fragte er nach. „Hab' ich noch nie gehört.“
„Nicht?“ Ich trank noch einen Schluck und strich dann durch mein zerzaustes Haar. „Ich esse kein Fleisch, Fisch aber schon.“
„Ah, verstehe.“ Matt lehnte sich an die Inseltheke, die sich zwischen uns befand. „Willst du duschen und ich mache dir in der Zwischenzeit ein paar Eier? Danach kann ich dich nach Hause bringen.“
„Ich weiß nicht. Ich sollte lieber gleich gehen.“
„Wie du willst“, meinte er und richtete sich wieder auf.
„Ich gehe noch auf die Toilette, dann bist du mich gleich wieder los. Wo ist dein Badezimmer?“
Matt zeigte mir den Weg. Als ich mich im Spiegel sah, bekam ich vor Schock beinahe einen Schlaganfall. Meine Haare waren noch zerzauster, als sie sich anfühlten, mein Makeup vollkommen verschmiert. Ich war blass und unsicher, ob das Schwarz unter meinen Augen nun verwischter Mascara oder Augenringe waren.
Ich öffnete die Tür. „Matt? Vielleicht wäre eine Dusche doch nicht schlecht.“
„Soll ich dir etwas zum Anziehen leihen?“, fragte er nach. „Jogginghose oder Shirt könnten dir irgendwie passen.“
Da ich nicht recht wusste, wie ich reagieren sollte, hielt ich kurz inne. „Nein, danke. Ich gehe dann gleich nach Hause.“
Ich ging zur Toilette und nahm eine Dusche. Obwohl ich mir gerne die Zähne geputzt hätte, musste das wohl ausfallen. Jede Sekunde, die ich hier verbrachte, war mir peinlich. Dass ich mich kaum an letzte Nacht erinnern konnte, machte es nicht besser. Hatte er mich wirklich gefunden oder hatten wir uns auf der Party getroffen? Hatte er mich mit nach Hause genommen, um mir zu helfen oder hatten wir sogar Sex und ich erinnerte mich nicht daran? Die Unsicherheit verursachte ein flaues Gefühl in meinem Magen.
Die Dusche ließ ich schnell wieder hinter mir. Ich band mir meine nassen Haare zu einem Knoten zusammen und schlüpfte angewidert in mein nach Alkohol riechendes Kleid. Ich entdeckte Grasflecken auf dem hellblauen Stoff. Könnte sein, dass ich gefallen bin. Vielleicht hatten wir auch … Nein, doch nicht draußen.
Als ich aus dem Badezimmer kam, reichte Matt mir mein Smartphone. „Ich hab' es für dich aufgeladen, es war fast leer. Eigentlich wollte ich nicht in deiner Tasche wühlen, sorry, aber falls es dir schlechter gegangen wäre, hätte ich deine Eltern angerufen.“
„Ja, äh, danke.“ Ich ging zurück zur Couch, wo meine Tasche und auch meine Schuhe lagen. „War schön mit dir, aber wir müssen das nicht fortführen. Ich, ähm, tut mir leid.“
Gerade, als ich die kleine Wohnung verlassen wollte, hielt Matt mich am Arm fest. „Nein, warte.“ Als ich ihn ansah, ließ er mich sofort los. „Entschuldige. Ich kann nur nicht zulassen, dass du so zurück ins Wohnheim gehst. Wir müssen reden. Was denkst du ist zwischen uns vorgefallen?“
Ich zuckte mit den Schultern und sah zu Boden. „Ich bin nicht so eine.“
„Eine was? Ein Mädchen, das gerne Spaß mit einem Kerl hat?“ In seiner Stimme konnte ich erkennen, dass er sich amüsiert. „Ich kann dich beruhigen. Zwischen uns ist nichts gelaufen. Ich war nachts noch eine Runde joggen, weil ich nicht schlafen konnte. Du warst gerade auf dem Heimweg von einer Party und hast geweint. Du warst ziemlich betrunken und weil du nicht wusstest, wohin du gehen sollst, habe ich dich mitgenommen.“ Er hob seine Hände. „Keine Sorge, ich hab' meine Hände von dir gelassen, so wie du es wolltest.“ Er wog seinen Kopf hin und her. „Gut, ich habe dir hochgeholfen, als du gefallen bist und ich habe deine Haare gehalten, als du dich die halbe Nacht übergeben hast, aber ich konnte dich nicht alleine im Badezimmer lassen. Ich wollte nicht, dass du alleine bist. Dir ging es ziemlich schlecht und ich habe mich um dich gekümmert.“
„Ehrlich? Das ist lieb von dir.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann mich an gar nichts so richtig erinnern.“ Matt musterte mich. „Das ist mir grade so peinlich. Entschuldige, Matt.“
„Filmriss, hm?“, fragte er nach.
„Ja“, antwortete ich und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. „Ich fühle mich schrecklich.“
„Vielleicht kann ich dir ein bisschen auf die Sprünge helfen.“ Matt fuhr sich durch sein Haar. „Gestern hast du mir etwas erzählt, was mich ziemlich sauer gemacht hat. So ein Kerl hat dich angetatscht. Erinnerst du dich noch?“, hakte Matt nach, worauf mir sofort noch übler wurde. Ich konnte mich tatsächlich an jemanden erinnern. Er hatte mich festgehalten und sich mir aufgedrängt. Ich wollte, dass er mich in Ruhe lässt, doch er hatte mich trotzdem angefasst.
„Ja, dunkle Augen, Locken, breite Schultern“, antwortete ich. „Al oder Alex? Vielleicht? Vielleicht waren seine Augen auch nur dunkel, weil es auf der Party dunkel war, aber an die Locken erinnere ich mich.“
Matt nickte, dann hebt er seine Hand, um mich um einen Moment zu bitten. Er ließ mich vor der Tür stehen und kam mit seinem Smartphone wieder. Es dauerte einen Moment, doch dann zeigte er mir ein Foto.
„Ja, ja, das ist er“, bestätigte ich seine Annahme.
Nun nickte er und sah sich das Foto selbst noch einmal genauer an. Matt zog seine Brauen zusammen, steckte das Smartphone dann aber gleich wieder weg. „Was für ein Arschloch. Willst du etwas gegen ihn unternehmen? Am liebsten würde ich ihn in der Luft zerreißen, wie eine Packung Chips.“
„Ich weiß nicht recht“, antwortete ich mit mulmigem Gefühl im Magen. Ich verschränkte meine Arme, um meinen Ausschnitt zu verbergen. Irgendetwas in mir hatte das Gefühl, das tun zu müssen. „Man wird mir nicht glauben und er hat mich ja nicht vergewaltigt. Ich habe gar keine Beweise dafür, dass er … Was wird schon passieren? Solche Männer kommen doch immer irgendwie davon.“
„Nein, bestenfalls fliegt er vom College und landet im Knast.“
„Mir wird niemand glauben, Matt“, wiederholte ich mich unsicher.
„Und wenn ich mit den Jungs rede und wir dir helfen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Es-Es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Matt, danke, aber bitte lass es auf sich beruhen. Niemand glaubt einem Mädchen in kurzem Kleid und ich will das nicht.“ Ich senkte meinen Blick. „Ich kann das nicht. Das würde so viel Aufsehen erregen. Das kann ich nicht.“
Ich öffnete die Tür und verließ Matts Wohnung. Es war schwer, nicht sofort in Tränen auszubrechen.
„Ilaria, warte. Soll ich dich wirklich nicht begleiten? Du solltest jetzt nicht alleine sein.“
„Nein, ich habe Google Maps und kann mir ein Uber leisten“, antwortete ich und eilte den Gang entlang, um Matt und der Party von letzter Nacht so schnell wie möglich zu entkommen. Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken.
· • ❀ • ·
Alex wurde damals tatsächlich festgenommen. Nicht, weil er mich angefasst hatte, sondern weil er eine Woche darauf ein Mädchen vergewaltigt hatte. Glücklicherweise musste sie das alles nicht alleine durchstehen. Matt und seine Freunde haben dem Mädchen geholfen und auch ich musste bei der Polizei aussagen. Natürlich gab es Stimmen, die trotz Augenzeugen auf den Partys gegen uns Frauen gesprochen haben. Natürlich gab es auch unzählige frauenverachtende Kommentare, die mir Angst gemacht haben, doch ich wusste, dass es das Richtige war, gegen Alex auszusagen. Trotz aller Beweise und all den Zeugenaussagen fiel das Strafmaß durch sein Schuldeingeständnis viel zu gering aus.
Dass Männer wie er einen Deal von der Staatsanwaltschaft bekommen, ärgerte mich und viele andere Frauen und Unterstützer. Obwohl Alex vom College verwiesen wurde, hatte ich in gewisser Weise trotzdem recht. In dieser Welt kamen Männer wie er immer glimpflich davon. Er war viel zu schnell wieder auf freiem Fuß und wir konnten nichts dagegen unternehmen.