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KAPITEL 25
18. November
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Nach einem relativ knappen Sieg gegen die Jacksonville Jaguars merkt man deutlich, dass die Motivation und das Selbstbewusstsein des ganzen Teams einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Die Colts sind in Höchstform, als sie gegen die Tennessee Titans auf den Platz gehen. Das Spiel ist so aufregend, dass es selbst für jemanden, der keine Begeisterung für Football verspürt, an der Zeit ist, dem Sport eine Chance zu geben. Matt hat heute einen besonders guten Tag. Er wirkt, als würde er alles und noch viel mehr geben, als er mit dem Football über das Feld läuft und den Vorsprung der Colts Yard für Yard ausbaut. Er spielt um sein Leben.
Gebannt verfolge ich das Spiel, doch dann tippt mir jemand gegen die Schulter. Verwirrt sehe ich zu dem Mann auf. „Ilaria?“, fragt er, worauf ich ihn skeptisch ansehe.
„Ja?“, antworte ich vorsichtig. Den Kerl habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Er sieht recht gefährlich aus. Breit gebaut und muskulös. Auch sein kantiges Gesicht macht einen eher unfreundlichen Eindruck. Nachts würde ich ihm auf jeden Fall aus dem Weg gehen.
„Matt schickt mich. Ich soll dich runter zum Spielfeld bringen.“
„Zum Spielfeld? Was soll ich denn da?“
Er zuckt mit den Schultern. „Matt hat mir das hier für dich gegeben.“ Der glatzköpfige Mann reicht mir einen kleinen Zettel. Neugierig falte ich ihn auf und lese, was Matt mir geschrieben hat. Wenn ich Matts Schrift nicht erkennen würde, würde ich vermutlich hier sitzen bleiben, anstatt einem fremden Mann irgendwohin zu folgen.
‚Hey, Baby. Wir sehen uns auf dem Spielfeld. Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen. Ich liebe dich.‘
„Na das ist ja nicht sehr aufschlussreich.“ Fragend sehe ich zu dem Mann. Auch der breit gebaute Mann sieht ratlos aus. Da ich den Security Ausweis an seiner Brust sehe, gebe ich dem Fremden einen kleinen Vertrauensvorschuss und stehe auf. „Na gut, dann auf zum Spielfeld.“
Wir sind eine Weile unterwegs, weswegen ich das Ende des Spiels garantiert verpasse. Das Stadion ist unglaublich groß und die Gänge scheinen endlos zu sein. Selbst hier in den Gängen unter der Tribüne kann man die Menge noch jubeln und feiern hören. Neugierig frage ich nach: „Hat Matt denn sonst gar nichts gesagt? Bis jetzt hat er mich noch nie ans Spielfeld geholt. Darf ich da überhaupt sein? Und hier ist ja auch gar keiner, also Security-Personal meine ich. Kann man denn einfach hier langlaufen, um dann aufs Spielfeld zu kommen? Wirkt irgendwie unsicher. Und ist das überhaupt erlaubt, jemanden einfach so mit ans Spielfeld zu nehmen?“
„Redest du immer so viel?“
„Meistens.“
„Also wenn du nicht vorhast, nackt über das Spielfeld zu flitzen, sollte das kein Problem sein, wenn ich dich mitnehme. Obwohl bei dir bestimmt nicht so viele Leute ein Problem damit hätten dich nackt zu sehen“, antwortet der Security-Mann, ehe er über seinen eigenen Witz lacht.
Auch wenn mir sein Witz unangenehm ist, spiele ich mit und antworte: „Oh nein, das habe ich ganz sicher nicht vor. Ist viel zu kalt dafür.“
Er öffnet mir eine letzte Tür, dann kann ich schon das Licht von draußen sehen. Ich gehe die letzten Schritte, bis ich tatsächlich unten am Spielfeld ankomme. Die Fans jubeln. Ich bekomme eine Gänsehaut. Die Energie des Stadions ist unglaublich. Auf der Anzeigetafel ist der deutliche Vorsprung der Colts zu sehen. Während die letzten Sekunden des Spiels ablaufen, sehe ich mich erstaunt um. Das ist also die Perspektive die Matt jeden Sonntag erwartet. Zehntausende von jubelnden Zuschauern um einen herum zu haben, fühlt sich selbst für mich überwältigend an und ich bin klein und stehe nur unscheinbar an dem Rand des Spielfeldes.
„Komm“, spricht der Securtiy-Mann mich an. Er legt eine Hand an meinen unteren Rücken, doch ich winde mich aus seiner Berührung. Ich will nicht angefasst werden. Schon gar nicht nach so einem dummen Spruch. „Komm mit da rüber.“
Obwohl ich mich nach der Berührung nicht besonders wohlfühle, folge ich seinen Anweisungen. Die Spieler stehen noch auf dem Feld und feiern ihren Sieg. Ich lächle breit, als ich Matt auf mich zukommen sehe. Er nimmt seinen Helm ab. Ein Mann im Anzug kommt auf ihn zu und Matt reicht ihm seinen Helm. Die beiden schlagen ein und umarmen sich. Schüchtern winke ich meinem Freund zu, als die beiden sich voneinander lösen. Der Lärm und die vielen Menschen sind vollkommen überwältigend für mich. Die Atmosphäre knistert förmlich auf meiner Haut. Die Colts haben gewonnen und die Fans könnten nicht glücklicher über diesen Sieg sein.
„Hey, Baby“, begrüßt er mich. Er nimmt meine Hand und zieht mich auf das Spielfeld.
„Matt, was soll das? Warte, sei vorsichtig, ich kann mit den Schuhen nicht gut im Gras laufen. Was machst du?“
„Es ist eine Überraschung.“
„Lass mich ja keinen Football werfen, das wäre peinlich.“
Matt bleibt vor mir stehen. „Ich liebe dich.“ Mein Lächeln verfliegt, als Matt plötzlich vor mir in die Knie geht. Er hält meine Hand fest. „Baby, ich will dir vor all diesen Menschen, vor ganz Amerika meine ewige Liebe gestehen. Ich liebe dich, seit ich dich das erste Mal zeichnen gesehen habe und ich liebe dich mit jedem Tag mehr.“
„Matt, Matt, was machst du, steh auf“, bitte ich ihn überfordert. Er lässt meine Hand los und da sehe ich die kleine schwarze Box, die er in seiner anderen Hand hatte. Woher kommt die denn plötzlich?!
„Ilaria Evans, möchtest du mich zum glücklichsten Mann in ganz Amerika machen und meine Frau werden?“
Ich lege meine Hände an meinen Mund und werfe einen Blick in die unendlich groß scheinende Menschenmenge, die sich in den Rängen des Stadions befindet. Matt und ich werden auf der Leinwand gezeigt. Ob es nun vor Überraschung, Freude oder doch Angst ist, weiß ich nicht, doch mir bleibt die Luft weg. Ganz Amerika wartet auf meine Antwort. Mit Tränen in den Augen nicke ich. Kein einziges Wort kann den Kloß in meinem Hals überwinden, um über meine Lippen zu kommen. Matt springt auf und steckt mir den Ring an den Finger, dann nimmt er mich in den Arm und wir drehen uns im Kreis. Überglücklich küsst er meine Lippen. Wie mechanisch erwidere ich seinen Kuss. Die gesamte Situation ist vollkommen überfordernd für mich. Die jubelnde Masse, die applaudierenden Footballprofis auf dem Feld, die unzähligen Zuschauer vor dem Fernseher und die riesige Leinwand, die immer noch mich und Matt zeigt, sind zu viel für mich. Matt stellt mich auf den Boden ab und ich habe das Gefühl, dass meine kribbelnden Beine mich nicht halten können. Ich drücke Matts Hand, dann werfe ich den ersten Blick auf den Ring an meinem Ringfinger. Dieser riesengroße Diamant muss ein Vermögen gekostet haben. Das alles ist viel zu viel. Ich weiß nicht, was ich denken oder fühlen soll. Ich bin vollkommen überfordert mit dieser Situation.
„Alles gut?“, fragt Matt mich, worauf ich eingeschüchtert nicke.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist so … Ich bin überrascht. Ich wusste nicht, dass du das vorhattest.“
Matt zieht mich an sich heran und winkt stolz grinsend zu den jubelnden Fans. Vorsichtig wische ich mir die Tränen aus den Augen. Ich lächle. Nicht, weil ich glücklich bin, sondern weil ich das Gefühl habe, dass ganz Amerika das von mir erwartet. Es fällt mir schwer, zu verstehen, was gerade passiert ist. Das ging viel zu schnell. Ich halte mich an Matts Trikot fest, während ich in die jubelnde Menge sehe.
Ich habe doch nicht tatsächlich zugesagt, Matt zu heiraten, oder?
· • ❀ • ·
Die Heimfahrt ist mir unheimlich. Das Smartphone in meiner Hand vibriert immer und immer wieder. Ich werde auf tausenden von Fotos markiert. Die Glückwünsche strömen auf sämtlichen Apps auf mich ein. Meine Finger fühlen sich von der immer wieder aufkommenden Vibration fast schon taub an.
„Vibriert mehr als dein Freund in der Nachttischschublade“, zieht Matt mich auf.
„Kann sein, ja“, antworte ich etwas abwesend. „Ich sollte das mal ändern. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll. Das ist so viel. Wie soll ich das alles denn beantworten? Das kann ich doch unmöglich schaffen. Und wenn ich es nicht tue? Was dann? Halten mich dann alle für unfreundlich oder eingebildet?“
„Ach, die Aufregung wird sich wieder legen.“ Als Matt zu mir sieht, grinst er mich breit an. „Das war der beste Tag meines Lebens. Mein bestes Spiel und meine Verlobung an einem Tag. Ich glaube, dass das das Highlight meines Lebens ist. Bis zur Geburt unserer Kinder natürlich, die sind einen Rang höher.“
Auch wenn der Gedanke daran, ein Kind zu bekommen, sich anfühlt wie ein Schlag in die Magengrube, versuche ich, das Thema mit Humor zu nehmen und antworte: „Und wo würde der Superbowl liegen? Vor oder nach den imaginären Kindern?“
„Gute Frage.“ Er überlegt. „Kinder, Superbowl, heutiger Tag.“
Ich wiege meinen Kopf hin und her. „Ja, das lasse ich gelten.“
„Dir gefällt der Ring doch, oder? Du hast noch gar nichts gesagt.“
Ich hebe meine Hand, um ihn anzusehen. „Ja, er ist wirklich sehr schön. Entschuldige, ich kann das alles noch nicht fassen. Ich bin immer noch ganz überfordert. Ich weiß noch nicht, was ich denken soll.“
„Schon okay, Baby. Ich kanns auch nicht fassen. Ich war noch nie so glücklich wie heute. Diese vielen Glücksgefühle flashen mein Gehirn.“ Matt kann gar nicht mehr aufhören zu grinsen. Er reibt sich die Wangen. „Morgen habe ich Muskelkater vor Glück.“
Wir werden von dem Fahrer an unserer Einfahrt abgesetzt. Mein Smartphone ist plötzlich vollkommen ruhig. Der Grund dafür ist schnell gefunden: Die vielen Meldungen haben meinen Akku vollkommen ausgeschöpft. Ich bin erstaunt, dass das so schnell ging, anderseits sehr erleichtert, denn die vielen Glückwünsche könnte ich nie im Leben einzeln beantworten. Ganz Amerika hat uns im Fernsehen gesehen. Als ich schlucke spüre ich immer noch den Kloß in meinem Hals, der seit dem Moment, als ich am Spielfeld ankam, nicht mehr verschwinden möchte. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich kann Matt doch nicht wirklich heiraten, oder? Nicht bei all diesen Zweifeln. Irgendetwas läuft aktuell ganz, ganz falsch.
· • ❀ • ·
Um den Schein zu wahren und die Welt zufrieden zu stimmen, poste ich ein Foto von Matt und mir, wie wir uns auf dem Spielfeld küssen. Auch ein Foto von meinem Ring landet auf meinen Social Media Seiten. Bei so vielen Fragen nach dem Ring fühle ich mich dazu verpflichtet, Amerika diese Frage zu beantworten.
Ich schalte überall die Benachrichtigungen aus und rufe meinen Daddy an. Nach all dem Chaos muss ich jemanden hören, dem ich zu hundert Prozent vertrauen kann. Mein Kopf fühlt sich an als würde ein Hurricane meine Gedanken durcheinanderbringen. Es wird Zeit, dass der Sturm wieder vorbeizieht.
„Mein Goldfisch!“, freut Daddy sich, als er das Gespräch annimmt. „Du machst dich gut im Fernsehen. Alle haben es gesehen. Die ganze Nachbarschaft hat für dich gejubelt.“ Mein Unterkiefer fängt an zu zittern. Ich lege meine Hand an meinen Mund und atme tief durch die Nase ein. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin. Schade, dass ich nicht dabei war.“
„Ja, schade“, antworte ich, nachdem ich meine Hand von meinem Mund genommen habe. „Wäre schön gewesen.“
„Ist alles okay?“
„Ja, ich bin nur total überfordert mit den vielen, vielen Nachrichten. Ich habe noch nie so viel Aufmerksamkeit bekommen und weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Das ist so viel.“ Ich atme tief durch. „Viel zu viel. Ich kann damit überhaupt nicht umgehen. Und ich will ja auch nicht undankbar sein. Ich schaffe das nicht.“
„Tief durchatmen. Du bist gerade die interessanteste Sensation, aber das wird sich in den nächsten Tagen wieder legen. Spätestens beim nächsten Spiel ist alles wieder vergessen und du kannst das alles wieder ruhiger und lockerer sehen. Schalt einfach dein Smartphone aus und ignorier alle Meldungen.“
„Wenn das nur so einfach wäre. Mit ausgeschaltetem Smartphone kann ich gar kein Candy Crush spielen“, versuche ich, diese Situation wieder mit Humor zu klären, doch eigentlich ist mir nur nach Weinen zumute.
„Ach, Goldfisch. Das ist ein großer Schritt und es ist okay, wenn du aufgeregt und nervös bist. War überraschend, dass er das auf dem Feld gemacht hat, hm? Ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass er es so machen will.“
Überrascht setze ich mich in meinem Bett auf. „Du wusstest es?“
„Ja, als ihr vor einer Weile bei uns wart ist Matt noch einmal reingekommen, als du schon im Auto warst. Da hat er uns den Ring gezeigt und erzählt, dass er dir gerne einen Antrag machen möchte.“
„Wieso hast du mir nichts gesagt?“, hake ich nach. „Dachtest du nicht, dass es wichtig wäre, dass ich das weiß?“
„Nun ja, keine Ahnung.“ Er seufzt. „Hätte ich wohl machen sollen. Ich wollte dir aber nicht die Überraschung verderben. Ich dachte, dass es besser ist, wenn du es nicht weißt. Sonst hättest du jeden Tag den Antrag erwartet und ich bin mir nicht sicher, ob deine Ungeduld das ertragen hätte.“ Ich beiße die Zähne zusammen. Wenn ich es gewusst hätte, wäre ich vielleicht weggelaufen, anstatt mich durch die letzten Wochen zu quälen. Ich schüttle über mich selbst den Kopf. Was denke ich denn da? Matt und ich sind jetzt lange genug zusammen, es war klar, dass das der nächste Schritt sein wird. Er hat doch sogar schon darüber gesprochen, ein Baby zu bekommen. Wie konnte ich die Zeichen übersehen? „Bist du noch da?“
„Ja, tut mir leid, ich bin nur immer noch so abgelenkt. Das alles fühlt sich so seltsam an. Irgendwie wie ein Traum. Ein seltsamer, überrumpelnder Traum.“
„Sobald sich die erste Aufregung gelegt hat, wirst du die Gelegenheit bekommen, dich zu freuen. Als ich deiner Mum damals den Antrag gemacht habe, war ich auch ein paar Tage ziemlich neben der Spur. Erst davor, weil ich nervös und aufgeregt war und dann danach, weil ich es nicht glauben konnte, meine wunderschöne Traumfrau zu heiraten.“ Schnell wische ich mir die Tränen von den Wangen. Ich fühle nichts von dem, was Daddy gerade beschrieben hat. Im Gegenteil. Ich habe große Angst, dass ich mein Leben von nun an kaum noch selbst bestimmen kann. „Und die Hochzeit war noch viel schlimmer. Deine Mum war so gefasst, während ich schon beim Kauf meines Anzugs weinen musste.“ Daddy lacht. „Du wirst sehen. Sobald du dich an den Ring an deinem Finger gewöhnst und dir dein Kleid aussuchst, dann wird sich alles richtig anfühlen.“
„Ja, das denke ich auch“, stimme ich ihm traurig zu. „Daddy, ich muss jetzt unter die Dusche. Ich hab' dich lieb.“
„Ich hab' dich auch lieb, mein Goldfisch. Macht euch eine schöne Nacht.“
„Ja“, antworte ich, dann lege ich schnell auf. Das Smartphone lasse ich auf mein Bett fallen, dann eile ich ins Badezimmer, um meinen richtigen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Ich drehe den Wasserhahn auf, in der Hoffnung, dass er mein Schluchzen übertönen kann. Mit tränennassen Augen greife ich nach einem der Kosmetiktücher aus dem Spender und wische mir über die Wangen. Eilig putze ich mir die Nase, dann lehne ich mich an das Waschbecken. Auch wenn ich mir meinen Gefühlen oft nicht sicher bin, weiß ich ganz genau, dass das hier keine Freudentränen sind und dass es nicht normal ist, wie ich mich gerade fühle. Ich sollte fröhlich sein und Matt küssen und mich an ihn kuscheln und an nichts anderes als den Ring an meinem Finger denken. Ich sollte darüber nachdenken, welches Kleid ich tragen möchte, doch ich fühle mich leer.
Ich putze mir die Nase noch einmal, werfe dann das zerfledderte Kosmetiktuch in den Mülleimer und wasche mir die Hände und das Gesicht. Das kalte Wasser holt mich wieder ein wenig aus meiner Traurigkeit heraus. Mit zitternden Fingern greife ich nach meinem Handtuch und wische mein Gesicht trocken. Auch das Wasser stelle ich wieder aus. Der leere Blick meines Spiegelbildes macht mir Angst. Ich bin nicht mehr ich selbst. Ich war schon lange nicht mehr ich selbst. All das ist nur noch eine Fassade, die ich aufrechterhalte, um es all den Menschen in meinem Leben rechtzumachen.
„Ich kann das nicht mehr“, flüstere ich mir selbst zu. „Ich kann nicht mehr.“
Deprimiert versenke ich meine Hände in meinen Haaren und wende mich dann von meinem Spiegelbild ab. Ich lehne mich mit dem Rücken an die Theke und spüre die kalte Kante der Marmorplatte an meiner Wirbelsäule. Ich kann mich nicht länger ansehen. All die schönen Worte, all die motivierenden Sprüche, die mein Spiegelbild sonst zu hören bekommt, scheinen sich nun über mich lustig zu machen. Wenn ich nichts unternehme, dann werde ich in Wochen oder Monaten vor dem Altar stehen. Ich werde Matt sagen, dass ich ihn heiraten will und wir werden als Mann und Frau die Kirche verlassen. Wir werden Kinder bekommen und vielleicht werde ich mich nie wieder in meinem Leben frei für etwas entscheiden können. Ich starre auf den Wäschekorb. Matts Sachen liegen wieder auf dem Boden verstreut. Das und die Spielsachen unserer Kinder werden meine Zukunft. Mit meiner Hand streiche ich über meinen Bauch. Mir ist übel.
„Nein, nein, nein.“ Ich schüttle den Kopf. „Nein, nein, ich kann das nicht, nein.“
Als ich ein Klopfen an der Badezimmertür höre, schrecke ich aus meinen Gedanken. Ich lege eine Hand an meinen Mund. „Baby?“
Matt hat mich doch nicht gehört, oder? „Ja?“, antworte ich vorsichtig.
„Bereit für die Couch?“
„Nein“, antworte ich ihm nun deutlich sicherer. Wenigstens ist das keine Lüge. Das alles ist auch Matt gegenüber so unfair. Er hat das nicht verdient.
„Okay, ich wäre dann schon so weit. Komm einfach, wenn du fertig bist.“
„Mach ich.“
Als Matt wieder von der Tür verschwindet, blicke ich auf meinen Ring. Der große Diamant funkelt im kühlen Licht des Badezimmers. Noch nie in meinem Leben habe ich so ein schönes Schmuckstück getragen. Ich habe ihn nicht verdient. Ich habe all das nicht verdient.
Nervös lasse ich Kleidungsstück für Kleidungsstück fallen. Ich steige unter die Dusche und lasse mich von warmem Wasser berieseln. Was soll ich tun? Soll ich Matt sagen, dass ich ihn nicht mehr liebe? Das ist doch gar nicht so, ich liebe ihn. Ich bin nur schon viel zu lange nicht mehr glücklich. Mit beiden Händen wische ich mir mein von Haarspray verklebtes Haar aus dem Gesicht. Wieso ist es nicht mehr so, wie es war? Was habe ich falsch gemacht? Was war der erste Schritt in die falsche Richtung? Kann ich es noch rückgängig machen? Kann ich zu dem Punkt zurückgehen und dieses Mal eine andere Abzweigung nehmen?
Schluchzend sinke ich zu Boden. Meine Knie sind nun endgültig zu schwach, um mich weiterhin zu tragen. Mein gesamter Körper ist müde. Ich bin ausgelaugt. Wenn ich nicht bald die Notbremse ziehe, dann werde ich an all dem zerbrechen.
Müde lehne ich mich an die kalten Fliesen hinter mir. Ich blicke nach oben. Das Wasser rieselt auf mein Gesicht und meinen Oberkörper. Es fühlt sich gut an, der Realität zu entfliehen und mich hier zu verstecken, doch ich weiß, dass ich nicht ewig in der Dusche bleiben kann. Mit den Fingern streiche ich durch den sanften Wasserstrahl. Was ich tun soll, sobald ich das Badezimmer wieder verlasse, weiß ich nicht. Warten und darauf hoffen, dass es wieder besser wird, hat in den letzten Monaten nicht funktioniert, so viel steht fest. Ich atme die warme, dampfige Luft tief ein. Ich muss etwas unternehmen, wenn ich möchte, dass mein Leben sich ändert. Und ich muss es schnell tun, denn ich kann so nicht weitermachen. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und schluchze.