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KAPITEL 38
Ein Blick in die Zukunft
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In den nächsten Tagen arbeite ich tatsächlich an einem großen Vision Board, auf dem ich alle Zukunftsziele in Form von Bildern und Zeichnungen festhalte. Mein zukünftiges Leben zu manifestieren, halte ich für eine ausgesprochen gute Idee. Sich etwas nur zu wünschen, reicht natürlich nicht aus, um seine Ziele zu erreichen. Sie jedoch jeden Tag deutlich vor sich zu sehen, hilft dabei, motiviert zu bleiben. Sobald das Vision Board fertiggestellt ist und an meiner Wand hängt, werde ich sogar von meinem Bett aus daran erinnert, worauf ich hinarbeite. Die vielen bunten Farben helfen, keinen Platz für graue Traurigkeit zu lassen. Ich wünsche mir eine Wohnung in Kalifornien. Der Hollywood-Schriftzug und auch die Golden Gate Bridge geben die Richtung an. Noch bin ich mir nicht ganz sicher, wohin es mich genau zieht, doch in Indiana habe ich keine Zukunft, das weiß ich ganz genau. Schon mein ganzes Leben lang wurde mir mehr als deutlich gemacht, dass ich nicht hierhergehöre. Fotos von meinen Gemälden und Schmuckstücken, die mich inspirieren, finden ebenfalls ihren Platz. Mein eigenes Geschäft zu gründen und mit meiner Kunst Geld zu verdienen, ist das größte Ziel auf meinem Vision Board und in meinem Leben. Kleider, Schuhe und andere Accessoires dürfen natürlich auch nicht fehlen. In Zukunft will ich tragen, was mir gefällt, ohne mir Gedanken darüber zu machen, was die Nachbarn oder frustrierte Grandmas von mir halten. Auch wenn ich weiß, dass es nicht meine Priorität sein wird, schaffe ich auch ein Plätzchen für einen Mann. In Kalifornien soll es viele sexy Männer geben, also habe ich mich für ein gesichtsloses Sixpack entschieden. Natürlich hätte ich gerne einen Mann mit einem Kopf, doch als Symbolbild macht sich das Sixpack sehr gut. Um meine Miete zu bezahlen, werde ich mir einen Job suchen müssen. Ein Bild von einem Schreibtisch mit einem Laptop hilft mir dabei, diesen wichtigen Teil nicht zu vergessen. Ich klebe auch ein Foto von der Sonne auf. Meine Zukunft wird so hell strahlen, dass ich all die dunklen Tage des letzten Jahres vergesse.
Ich beginne damit, meine kleinen Ziele in Angriff zu nehmen. Meinen Kleiderschrank auszumisten und einige Kleider und auch Schuhe, die ich nicht mehr trage, zu spenden, ist dabei der erste Schritt. Um Platz für Neues zu haben, muss erst das Alte aus dem Weg geräumt werden.
Die nächsten Wochen sind hart, aber auch lehrreich. Daddy lässt seine Beziehungen spielen, sodass ich erstaunlich schnell einen Therapieplatz bei einer netten, aber leider auch gnadenlos ehrlichen Therapeutin bekomme. In den ersten Wochen besuche ich sie jeden Donnerstag, dann nur noch jede zweite Woche. Ich arbeite jedoch nicht nur an meiner mentalen Stärke. Daddy und ich besuchen zusammen das Fitnessstudio und ich frische außerdem meine Poledance-Kenntnisse auf. Um mich alleine auf den Straßen wieder sicherer zu fühlen, nehme ich auch einige Trainingsstunden in Selbstverteidigung. Dass meine geliebten High Heels auch eine Waffe gegen Angreifer sein könnten, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Für zusätzliche Sicherheit sorgt Pfefferspray, das ich immer in meiner Jackentasche mitnehme.
Die nächsten Monate helfen mir dabei, wieder zu mir selbst zu finden. Ich kann mir zwar noch nicht die ganze Welt ansehen, doch ich komme dazu, die USA genauer zu erkunden. New York war erst der Anfang. Ich besuche außerdem San Francisco, Austin, Los Angeles und Seattle. Im Sommer verbringe ich mit Brad einige Tage bei Onkel Rob und Tante Kelly am Lake Michigan. Das Kleid, dessen Entwurf ich auf Brads Pinnwand gesehen habe, endlich anprobieren zu können, macht mich glücklicher, als ich es jemals vermutet hätte. Um unseren kleinen Sommerurlaub für immer in Erinnerung zu behalten, lassen Brad und ich uns dasselbe Tattoo stechen. Ich liebe die kleine Muschel an meinem Handgelenk.
Auf meinen Reisen wird mir klar, dass mein Herz sich sehr danach sehnt, mir einen meiner längst überfälligen Träume zu erfüllen. Kalifornien ist das richtige für mich. Ich fühle mich zu San Francisco hingezogen, als wäre ich eine Motte und San Francisco hellstrahlendes Licht in der Dunkelheit. Die Kunstszene dieser Stadt bietet mir bestimmt Möglichkeiten, Anschluss zu finden. Selbst wenn ich nur kleine Erinnerungsstücke an Touristen verkaufe, wäre das ein perfekter Start für mich, um in Kalifornien Fuß zu fassen. Und dieses Mal werde ich diesen Traum nicht für einen Mann zur Seite schieben und mich verbiegen, bis ich zerbreche. Ich weiß ganz genau, wohin ich will und ich lasse mich nicht mehr aufhalten.
In all der Zeit arbeite ich auch hart daran, die richtige Richtung für meinen selbstgemachten Schmuck zu finden. Ich fertige unzählige Prototypen an, um herauszufinden, was meine Marke verkörpern soll. Meine ersten Schritte sind zwar noch etwas holprig, aber meine Eltern sind immer da, um mich aufzufangen und mir wieder neuen Mut zu machen. Während Daddy mein größter Cheerleader ist und mich in allem, was ich tue, ermutigt und unterstützt, zeigt mir Mum die geschäftliche Seite der Selbstständigkeit. Ich habe noch einen langen Weg vor mir, bis ich von meinem Geschäft und meiner Kunst leben kann, doch ich weiß, dass es das wert ist. Meinen Traum zu meinem Leben zu machen, steht ganz oben auf meiner Prioritätenliste.
Auch der Liebe gebe ich eine neue Chance, doch ich stelle schnell fest, dass Dating-Apps nicht das halten, was sie einem versprechen. Nach einigen vielversprechenden Chats, die sich leider als enttäuschende Dates herausstellen, beschließe ich, mein Profil wieder zu löschen. Männer im richtigen Leben kennenzulernen liegt mir deutlich besser, also entscheide ich mich dazu, alles auf mich zukommen zu lassen, anstatt es durch eine App zu erzwingen. Ein wenig enttäuscht bin ich zwar schon, doch ich möchte lieber alleine sein, als mich in eine unglückliche Beziehung zu stürzen, nur damit ich jemanden zum Kuscheln habe. Das ist es einfach nicht wert.
In dem darauffolgenden Jahr finde ich einen neuen, gutbezahlten Job und beziehe sogar meine erste eigene Wohnung. Auch wenn mir die Stadt bereits einmal das Herz gebrochen hat, als ich nicht an meiner bevorzugten Uni aufgenommen wurde, gebe ich San Francisco eine Chance, es wiedergutzumachen. Es fühlt sich richtig an, Indiana zu verlassen, auch wenn es heißt, dass ich meine Eltern nicht mehr jeden Tag zu Gesicht bekomme.
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Der heutige Vormittag ist anstrengend. Es gibt noch viel zu erledigen, bis ich wieder nach San Francisco zurückfliegen kann, um mein neues Leben zu beginnen. Job und Wohnung sind in trockenen Tüchern, jetzt fehlen nur noch meine persönlichen Gegenstände und ich selbst natürlich. Mit einem Klebebandabroller verschließe ich einen der unzähligen Umzugskartons, die mit einem Umzugsunternehmen auf Reisen gehen werden. Vor Aufregung konnte ich heute Nacht kaum schlafen. Meine Abreise rückt immer näher und es gibt noch einiges zu tun. Ich sehe auf, als Daddy einen großen Karton in meine Richtung schiebt. Natürlich lässt er es sich nicht nehmen, mir zu helfen.
„Deine Kosmetikartikel sind verpackt“, scherzt er, worauf ich ihm einen bösen Blick zuwerfe.
„Das sind doch niemals all meine Kosmetikartikel. So viel besitze ich nicht. Da bin ich mir ganz sicher“, verteidige ich mich.
„Nein, um ehrlich zu sein sind das deine Schuhe“, antwortet er.
Ich lache los. „Das sind all meine Schuhe? Das ist doch ein Witz. Waren das wirklich so viele?“
Er schüttelt den Kopf. „Nein, kein Witz. Du hast viel zu viele davon. Ich bin mir gar nicht sicher, ob du das alles in San Francisco unterbekommst.“
„Ich werde einen Weg finden“, antworte ich selbstsicher. „Im schlimmsten Fall sortiere ich einige aus und verkaufe sie.“
„Schade, dass du nicht noch mehr Sachen hast“, meint Daddy, während er die bereits gepackten Kartons ansieht. „Je länger wir packen, desto länger bleibst du hier.“
„Die Rechnung geht nicht auf, Daddy. Wir haben Flugtickets und ich fliege auf jeden Fall. Ich habe viel zu hart gearbeitet, um jetzt einen Rückzieher zu machen. San Francisco wartet schon auf mich.“
Daddy seufzt. Er lässt sich auf mein Bett sinken. „Es ist schwer, dich gehen zu lassen. San Francisco ist viel zu weit weg.“ Ich lehne mich an meinen Karton und sehe Daddy an. „Du fehlst mir jetzt schon.“
„Du mir auch, aber wir haben ja das Internet und irgendwann muss der kleine Goldfisch ja auch aufs Meer hinausschwimmen. So ein Goldfischglas ist nicht gut für mich.“
„Können Goldfische überhaupt in Salzwasser überleben?“, fragt Daddy nach, worauf ich nicke.
„Ja, die sind viel robuster, als man denkt. Wenn man Goldfische in ein neues Gewässer entlässt, werden sie riesengroß. Und ich möchte auch über mich hinauswachsen und meinen Horizont erweitern. Die neuen Erfahrungen werden mir guttun. Ich will erwachsen werden, Daddy.“
„Versprich mir aber, dass du nach Hause kommst, wenn du dich einsam fühlst und San Francisco doch nicht das Richtige für dich ist“, bittet Daddy mich. „Dein Zimmer steht dir immer offen und wir werden hier nichts verändern.“ Dass er sich Sorgen macht, ist deutlich zu sehen. Ich würde mir um meine Tochter genauso viele Sorgen machen. „In New York hättest du wenigstens Brad gehabt. Und der Flug wäre auch wesentlich kürzer.“
„Dass ich in San Francisco auf mich gestellt bin, ist doch gerade das, was dieses Abenteuer ausmacht“, erkläre ich. „Du musst dir keine Sorgen um mich machen. Ich bin jetzt groß und erwachsen und ich schaffe alles, was ich mir in den Kopf setze.“
Daddy lässt einen tiefsitzenden Seufzer los. „Wenn es doch nur so einfach wäre, dich loszulassen. Tut mir leid, dass mir das so schwerfällt. Jetzt, da ich die Kisten vor mir sehe, fühlt sich alles so echt an. Ich will dir wegen deinem Umzug auch kein schlechtes Gewissen machen. Es ist nur hart, zu wissen, dass du jetzt so weit weg sein wirst. Als du am College warst, war das schon schlimm genug, aber da wusste ich wenigstens, dass du wieder nach Hause kommst.“
„Du tust so, als würden wir uns nie wieder sehen.“ Ich greife nach meinem Stift und beschrifte den Karton, den ich gerade gepackt habe. „Daddy, ich weiß, dass es schwer ist, mich loszulassen. Es ist auch für mich schwer, zu wissen, dass ich nicht in ein paar Minuten vor deiner Haustür stehen kann, aber ich muss es zumindest versuchen.“ Ich male ein Herz auf den Karton, dann verschließe ich den Stift wieder. „Ich schulde das der Ilaria, die hart dafür gearbeitet hat, aufs College zu gehen. Und ich schulde es der Ilaria, die weinend in ihrem Atelier sitzen musste, weil sie mit allem überfordert war.“ Ich blicke wieder zu Daddy. „Wenn ich nicht nach Kalifornien ziehe, werde ich es für den Rest meines Lebens bereuen. Ich werde mich immer fragen, ob das nicht das Richtige für mich gewesen wäre. Ich würde immer darüber nachdenken, was ich hätte werden können.“ Ich lächle. „Und ich will nicht bereuen, was ich verpasst habe, sondern lieber meine eigenen Erfahrungen und Fehler machen. Und die dann vielleicht bereuen, falls es etwas zu bereuen gibt.“
Daddy wirkt unzufrieden. „Manchmal hasse ich es, dass du so erwachsen und klug bist.“
Ich kichere, dann stehe ich vom Boden auf, um mich neben Daddy auf das Bett zu setzen. Er legt seinen Arm um mich und drückt mich sanft an sich. „Mir wird es gutgehen, ganz sicher“, verspreche ich ihm.
„Das weiß ich doch.“
„Und du bleibst doch ohnehin ein paar Tage, um mir zu helfen, also mach nicht so ein grimmiges Gesicht.“ Nun drückt Daddy mich deutlich fester an sich. „Nicht zerquetschen.“
„Ich kann nicht anders. Du wirst mir so fehlen.“
„Ich weiß. Ihr werdet mir auch fehlen. Sehr sogar.“
Es klopft an meiner Zimmertür, dann wird sie von Mum geöffnet. Der Spalt ist noch nicht besonders groß, schon quetscht Laileena sich in mein Zimmer. Sie spaziert schnurstracks auf einen noch ungefüllten Karton zu und reibt ihr Köpfchen daran. Ein kleiner Sprung führt dazu, dass sie im Karton verschwunden ist. Katzen lieben Kartons, auch Laileena ist hierbei keine Ausnahme.
„Meine Katze wirst du aber nicht mitnehmen“, meint Daddy, der das Szenario wohl genauso beobachtet hat wie ich.
„Tja, tut mir leid, Daddy, alles, was gepackt ist, wird mitgenommen. Ohne Ausnahme.“
„Tz, das hättest du wohl gerne.“ Er steht auf und schnappt sich Laileena, die unzufrieden mauzt.
„Ha! Siehst du, sie will mitkommen. California Kitty. Laileena und ich erobern San Francisco.“
„In deinen Träumen vielleicht. Laileena bleibt bei mir“, entgegnet Daddy bestimmt, dabei streichelt er seine Katze und sieht mir demonstrativ in die Augen.
Mum kichert und zieht somit meine Aufmerksamkeit auf sich. „Kommt essen, die Kartons können ruhig noch warten.“
„Schon unterwegs“, freue ich mich und springe von meinem Bett auf. Ich stehle Daddys Katze und drücke mein Gesicht in Laileenas flauschiges Fell. Lange lässt sie sich das leider nicht gefallen, denn sie windet sich aus meinem Griff und springt ein weiteres Mal in den Karton zurück.
„Nein“, antwortet Daddy auf mein freches Grinsen, obwohl ich überhaupt nichts gesagt habe. „Ich öffne gleich wieder den Karton da drüben, damit du dir diese Idee abschminken kannst.“
Lachend gebe ich ihm einen kleinen Schubs. „Als ob ich deine Katze stehlen würde. So böse bin ich nicht.“
Wir steigen die Treppen hinunter. In wenigen Tagen ist es soweit und ich sitze wieder im Flugzeug. Obwohl ich mich unglaublich darauf freue, endlich meine Träume zur Realität zu machen und meine Wohnung zu beziehen, möchte ich auch die letzten Tage mit meiner Familie genießen. Vielleicht sollten wir noch etwas Schönes unternehmen. Mir wird bestimmt noch etwas einfallen, um die letzten Tage in Indiana zu etwas Besonderem zu machen.
Trotz allem, kann ich es nicht erwarten, endlich nach Hause zu fliegen. San Francisco wartet auf mich.