Montag Morgen.
Der Mann saß an seinem Schreibtisch in seinem Büro und stützte müde und genervt den Kopf auf seine Hände. Mit Daumen und Zeigefinger massierte er seine Nasenwurzel.
Wie zu Teufel sollte er die sich immer mehr zuspitzende Lage noch in den Griff bekommen?
Er hatte in all den Jahren, seit seine geheime Tätigkeit begonnen hatte, schon viele Krisen bewältigt. Aber das hier? Das schien weit mehr nach sich zu ziehen als alles, was er bisher erlebt hatte.
Und zum allerersten Male seit Beginn seiner Karriere zweifelte er an seiner Fähigkeit, eine Situation zur Zufriedenheit derjenigen, in deren Sinn er tätig war, zu bereinigen.
Er hatte den ganzen Morgen schon telefoniert. Heute Nacht hatte man das Büro in Berlin durchsucht, jenes Büro, wo die Macher des unseligen Videos ihren Sitz hatten. Man hatte den Bericht nicht gefunden, gut, das war auch nicht zu erwarten gewesen.
Nur, sein Problem war schon lange nicht mehr an erster Stelle dieser verdammte Bericht.
Sein Problem ... Nein, falsch. Eines seiner Probleme war die Tatsache, dass das Video als solches sich nicht hatte unterdrücken lassen. Er hatte es versucht. Er hatte es wirklich versucht, aber die Webcontent-Plattform hatte sich nicht beeinflussen lassen, weder hier noch von seinen Kontakten in Übersee. Man hatte dort, in den USA, von höchster Stelle aus versucht, dagegen vorzugehen ... und hatte keine Chance gehabt. Massiver Druck würde folgen, klar. Man würde den Verantwortlichen zusetzen. Aber ... zu öffentlich war die ganze Sache schon, um noch wirklich eingedämmt werden zu können.
Dieses ganze Theater mit Demokratie, freies Land, blablabla ... wie er es hasste. Wie sehr es ihn ankotzte! Wie einfach könnte es jetzt sein, wenn man einfach die Macht hätte, solche Dinge verbieten zu lassen, sperren zu lassen ...
Ja, er war sich darüber im klaren, wie sich diese Gedanken anhörten. Wie falsch das war. Immerhin verdankte er seine Stellung seiner Aufgabe, und die war vorrangig, dieses Land und seine Menschen zu schützen. Und seine Demokratie.
Ach verflucht, es war einfach zum Durchdrehen.
Die ganze Welt, so schien es, schien davon erfasst zu sein.
Überall auf der Welt veröffentlichten Menschen Videos mit ähnlichem Inhalt.
Es häuften sich die Berichte aus Ländern, in denen die Sub-Dom-Kultur Unterdrückung und Repressalien ausgesetzt waren, dass sie es sich nicht mehr einfach gefallen ließen.
Doch nicht nur das.
Hier, in seinem eigenen Lande wurden immer mehr Stimmen laut.
Menschen von der Straße, aber auch Prominente äußerten sich.
Und es war klar: die von der Regierung und offiziellen Stellen vertretene Aussage, das Kanazé- Problem sein nur geringfügig und nur vorübergehend, was seit Ausbruch des Virus immer wieder Mantra-artig in den Medien vorgebetet worden war, war nicht mehr zu halten.
Und das heute, Montag Morgen, keine drei Tage nach der Erstveröffentlichung des kleinen Machwerks.
Es war eine Flutwelle, ausgelöst von einem verdammten Video eines kleinen Newskanals in Deutschland, und er, zur Hölle, hatte es nicht verhindert.
Er hatte das alles offenbar komplett unterschätzt.
Und nun stand er vor den Trümmern.
Alles, was jetzt noch getan werden konnte, war, noch schlimmeres zu verhindern. Wenn bekannt werden würde, dass maßgebliche Polizeikreise schon lange darüber Bescheid wussten und es ganz bewusst unterdrückt hatten, würde das eine Welle der Empörung geben.
Der Politik und den Politikern traute man in diesem Lande ohnehin keine Ehrlichkeit zu. Dass die sich mit Freuden daran befleißigte, der Bevölkerung Sand in die Augen zu streuen, wunderte niemanden. Das erwartete man geradezu.
Aber die Polizei war für viele immer noch ein Anker in Recht und Gesetzen gewesen, ein Anker an Vernunft.
Und diesen Glauben am Boden zerschmettert zu sehen, würde Unruhen und Proteste auslösen, und vor allem würde es Fragen auslösen. Fragen nach dem Warum.
Und die zu beantworten ... okay, das könnte knifflig werden.
Er strich sich erschöpft mit der Hand über die Stirn.
Der Berg an Problemen, der über ihm herein gebrochen war, war schlimm.
Schlimmer aber war, dass es ein weiteres Problem gab.
Er hatte versucht, es zu ignorieren, aber ...
Als er vor vielen Jahren geheiratet hatte, war er noch recht jung gewesen, aber schon damals stand er am Beginn einer vielversprechenden Karriere, einer Karriere, die bereits in diesen frühen Tagen unter dem Mantel des Schweigens stand. Und es war damals einfach notwendig gewesen, sich eine Legende zuzulegen. Eine Tarnung.
Er hatte eine Frau geheiratet, die ein kleines Kind mit in die Ehe gebracht hatte.
Er hatte sie nicht geliebt, und das war wichtig: zwar wollte er nach außen hin als hingebungsvoller Familienvater erscheinen, innerlich aber wollte er sich nicht an irgendeinen Menschen binden.
Eine Frau, die er nicht liebte, ein Kind, das nicht das seine war ... auf diese Weise würde seine „Familie“ ihm nicht wirklich etwas bedeuten.
Und auch die Freunde, die er hatte. Von Anfang an hatte er sich nach außen hin jovial und herzlich gezeigt, in seinem Inneren jedoch distanziert gehalten.
Das alles war wichtig, damit er erstens nicht zögern würde, wenn es galt, gegenüber seiner „Familie“, seiner „Freunde“ Maßnahmen zu ergreifen.
Zweitens ihn nichts hielt, wenn es eines Tages notwendig werden würde, unterzutauchen. Und bei seiner Tätigkeit musste man einfach mit allem rechnen.
Und drittens er nicht erpressbar war.
Gefühle waren eben fehl am Platze, wenn man für das Wohl der Allgemeinheit sorgte. Für eine Allgemeinheit an dummen Schafen, die ihr eigenes Wohl oftmals nicht einmal dann erkannten, wenn es ihnen in den Hintern biss.
Gefühle waren überflüssig wie ein Kropf.
Also hatte er dafür gesorgt, dass niemand ihm nahe stand.
Über all die langen Jahre hatte er es so gehalten. Und immer war er ein wenig stolz darauf gewesen, immer hatte er sich selbst zugute gehalten, dass es ja für ein größeres Ziel war, und dass das Wohl der Herde, und wenn sie auch noch so sehr blökten und letztendlich nichts hinterließen als Köttel, alle Opfer wert war.
Er war der Hund mit dem scharfen Gebiss, und kein Schaf bedeutete ihm mehr als andere.
Nun, es hatte nicht funktioniert.