„Ja?“, meldete sich Max mit unsicherer Stimme.
Einen Augenblick hörte er nur ein Schweigen und wollte gerade nachhaken, da sagte eine Stimme, die ihm bekannt vorkam, auch wenn er im ersten Augenblick nicht wusste, woher:
„Ist dort Max Krüger?“
„Ja“, antwortete er, „wer spricht dort?“
„Hören Sie“, sagte der unbekannte Anrufer, „Für Sie und Ihre Freunde sind soeben Haftbefehle rausgegeben worden. Für Sie alle.“
Es durchfuhr Max wie ein Blitz: der Anrufer war dieser Kommissar, wie hieß der doch, ach richtig, Schneider!
„Wie bitte?“, stotterte er ein wenig hilflos.
„Ich kann nicht länger reden“, sagte der andere - Schneider? - und legte auf.
Max starrte verdattert auf sein Handy.
„Was ist los?“, fragte André.
Max sah zu Flo.
„Das war dieser Polizist, der, der am Samstag bei uns zu Hause war. Er sagt ...“,
Max schluckte.
„... das sie uns verhaften wollen! Uns alle!“
Die anderen starrten ihn entsetzt an.
„Aber warum warnt der uns denn?“, fragte Flo leise.
„Keine Ahnung“, sagte Max. „Aber viel wichtiger ist doch, was zum Teufel machen wir jetzt?“
„Scheiße“, schnaufte Olli, „ich glaube, wir sollten erst einmal raus hier! Hier her kommen sie doch als erstes!“
„Du hast recht“, sagte Flo. „Lass uns hier abhauen. Wir gehen rüber in den kleinen Park, ein paar Straßen weiter. Dorthin, wo diese von Hecken verdeckten Sitzbänke mit dem kleinen Springbrunnen sind. Da können wir dann besprechen, wie wir weiter vorgehen.“
Sie alle nickten.
Schnappten ihre Taschen und Schlüssel und machten sich auf den Weg.
Blass, ängstlich, mit zitternden Knien.
Sie waren keine Feiglinge, keiner von ihnen. Aber in einer solchen Situation hatte sich einfach noch keiner von ihnen je befunden. Daher war es doch nicht verwunderlich, dass sie von Furcht und Unsicherheit beinahe überwältigt wurden.
Sie sausten die Treppen hinunter, und auf dem Weg in den Park liefen sie schweigend nebeneinander her, sich immer wieder umblickend.
Es schien sie niemand zu verfolgen, aber ... wer wusste das schon so genau?
Jako drückte sich eng an Marti. Rick hatte seine Hand in Annas geschmiegt.
Frodo hatte Flos Leine in der Hand.
Felix dachte sehnsüchtig an seine Freundin, die seit ein paar Monaten auf einem Auslandssemester war... na ja, vielleicht war es ganz gut, dass sie jetzt nicht hier war und all dem nicht ausgesetzt.
Olli hätte gern seine Hand in Flos Hand geschoben, aber ... na ja, der war eben vergeben, was sollte man machen.
André und Niklas hingen einfach ihren Gedanken nach.
Es war eine bedrückte Stimmung bei ihnen allen. Und keiner von ihnen wusste so recht, wie es nun weiter gehen sollte.
* * *
Kriminalhauptkommissar Sven Schneider steckte das Handy wieder in seine Hosentasche. Dann ging er zum Waschbecken hinüber.
Er schaute sich selber im Spiegel an. Eigentlich ganz ansehnlich, was dort zu sehen war. Ein durchaus attraktives Gesicht in den vierzigern, helle Augen, braunes Haar. Ein paar Sorgenfalten, nun ja. Und aufgrund der jüngsten Ereignisse und dem damit verbundenen Haufen an Arbeit ein paar Augenringe, die nicht von schlechten Eltern waren.
Er seufzte, während er den Wasserhahn aufdrehte und etwas kühlendes Wasser über seine Handgelenke laufen ließ.
Wem versuchte er hier etwas vorzumachen? Seine Augenringe kamen sicherlich nicht nur von der vielen Arbeit, sondern vor allem von der Tatsache, dass er mit sich und seinem Gewissen rang.
Zum ersten Mal, seid er diesen Job machte, und er war nun wirklich schon etliche Jahre bei der Polizei; zum ersten Mal war er sich nicht sicher, ob er wirklich auf der richtigen Seite stand. Besser gesagt, auf wessen Seite er überhaupt stand.
Bisher war die Frage immer leicht zu beantworten gewesen. Er stand auf der Seite von Recht und Ordnung. Punkt. Doch hier stellte sich die Frage; welche Seite war das?
Er war Polizist geworden, weil ihm Gerechtigkeit, Gesetz, die Wahrung der Rechte wichtig waren und hier nun konnte er nicht einfach darüber hinwegsehen, dass eine ganze nicht unbedeutende Bevölkerungsgruppe von ihren Rechten her mit Füßen getreten wurde.
Er seufzte. War es richtig gewesen, was er getan hatte? War es richtig gewesen, diese Leute zu warnen?
Er ließ etwas Wasser die geöffneten Hände laufen und warf es sich ins Gesicht. Das kühle klare Nass erfrischte ihn. Dann straffte er seine Schultern. Ja, es war richtig gewesen, und er würde es in dieser Form jederzeit wieder tun.
Was die jungen Leute nun wohl tun würden? Ob sie sich verstecken würden? Oder ob sie sich der Sache stellten?
Er hoffte, dass sie versuchen würden der Verhaftung zu entgehen.
Er würde nun zurück zu seinem Schreibtisch gehen und einige Beamten auf den Weg schicken. Er hatte keine Wahl, er musste es tun. Doch vielleicht könnte er den jungen Leuten etwas Zeit verschaffen? Er schaute auf die Uhr. Es war kurz nach 10 Uhr an diesem Montag Vormittag. Kurz nach 10 Uhr erst, und schon soviel war geschehen.
Er überlegte. Vermutlich würden sie sich alle in ihrem Büro befinden um diese Uhrzeit. Also würde er die Beamten zuerst zu ihren Wohnungen schicken. Dort würde man niemanden antreffen, und dann, nun ja, dann würde man sich zum Büro aufmachen.
Wieder fragte er sich, war es richtig. Und wieder konnte er nicht umhin, die Frage für sich selbst mit 'Ja' zu beantworten. Vielleicht würde er Ärger bekommen. Früher oder später würde man bemerken dass jemand die Leute gewarnt hatte, und dann wäre es nur ein kleiner Schritt, den Weg zu ihn zurückzuverfolgen.
Doch das war ihm egal. Er hatte das richtige getan und er würde notfalls dafür gerade stehen. Er wollte sich auch weiterhin im Spiegel anschauen können, ohne sich vor sich selbst zu schaudern. Recht und Gerechtigkeit, das war es, weshalb er diesen Job machte. Und dafür, dachte Sven Schneider, dafür würde er eben auch mal etwas riskieren.