Biblischen Ausmaßes fühlten sich auch die Ereignisse der nächsten Tage an.
Der Polizeibericht war offenbar der letzte notwendige Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Jetzt gab es kein Halten mehr.
Im ganzen Land gingen erneut die Menschen auf die Straße. Subs und Doms, aber auch alle möglichen anderen, die die Nase einfach voll davon hatten, dass die Bedürfnisse einer ganzen, immerhin, wie man inzwischen wusste, ca. dreißig Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachenden Gruppe von Menschen komplett ignoriert wurden.
Dreißig Prozent! Also grob ein Drittel der Bevölkerung! Es ließ sich einfach nicht mehr wegdiskutieren, und die Menschen waren es einfach leid.
Außerdem hatte nun endlich die Presse Fahrt aufgenommen.
Sie, die sich so lange hatten an die Leine legen lassen (wie man das hinbekommen hatte, würde in den darauffolgenden Jahrzehnten in staatlichen Geheimorganisationen der ganzen Welt als Lehrbeispiel genutzt werden ...) waren jetzt nicht mehr zu halten. Fernsehdokumentationen wurden gedreht, die sehr kritisch und deutlich mit der Situation ins Gericht gingen.
Politiker wurden vor die Kamera gebeten und mussten Stellung beziehen.
Aber auch die Printmedien überschlugen sich geradezu, und dabei war nicht nur die bildhafte Boulevardpresse, von der man ja reißerische Schlagzeilen gewöhnt war, und auch nicht mehr nur linksgerichtete Blätter, die auch vorher schon eher bereit gewesen waren, heikle Themen aufzugreifen; nein auch die eher konservative Presse verschloss sich der Diskussion nicht mehr.
Man schrieb, man interviewte, man forderte, man rief auf.
Es war geradezu überwältigend.
Unsere Freunde hatten sich nach und nach alle wieder in Berlin eingefunden.
Marti und Jako waren die ersten gewesen. Sie wollten den Schrecken der letzten Tage hinter sich lassen und waren mitsamt Marita im Schlepptau noch am Freitag Nachmittag, etwas übermüdet aber dennoch entschlossen, wieder nach Berlin aufgebrochen.
Vor ihrer Wohnung hatte man sie nicht behelligt; anscheinend hatte auch die Polizei andere Sorgen, als sich um sie zu kümmern. Marita hatte das Gästezimmer bezogen und da es schon wieder spät abends war, hatten sie sich erst einmal schlafen gelegt.
Flo hatte beschlossen, dass er sich nicht mehr weiter verstecken wollte, und dass ihm ein Handy nicht reichte, um die Lage zu verfolgen.
Er hatte Max' Versuch, ihn durch seine Autorität davon abzuhalten, mit seinem Safeword unterbrochen. Da er so etwas wirklich nur sehr selten tat, nur dann, wenn es ihm wirklich wichtig war, hatte Max die Sache natürlich sehr ernst genommen und ihm zugehört.
Und gemeinsam hatten sie dann beschlossen, nach Berlin zurück zu kehren.
Sie machten sich am Samstag auf den Weg, und Olli und ja, auch Sven schlossen sich ihnen an.
Sie fuhren direkt in Büro.
Sie trafen am Samstag Nachmittag dort ein, gerade als auch Marti, Jako und Jakos Mutter im Büro auftauchten. Man stellte sich gegenseitig vor, und auch wenn Frau von Joiko sich zuerst etwas reserviert zeigte – man konnte es verstehen, immerhin waren Max und Flo doch diejenigen, die ihre Jungs mit in die Schwierigkeiten reingerissen hatten – wurde sie doch recht schnell zugänglicher, und Max grinste vor sich hin. Flos Charme konnte eben niemand widerstehen.
Sie wurden nicht von der Polizei oder anderen Organisationen behelligt; doch die Presse stand seit Samstag geradezu Schlage vor ihre Tür. Jeder wollte offenbar die jungen Leute interviewen, die den gerade stattfindenden Erdrutsch in Politik und Gesellschaft ausgelöst hatten.
Am Sonntag ging ein Telefongespräch auf dem Festnetztelefon des Büros. Es war Rick, und nachdem sich gegenseitig die Lage geschildert hatte, beschlossen die drei sich immer noch im Harz befindlichen, ebenfalls wieder zu den Freunden zu stoßen.
Auch auf dem Campingplatz im Mecklenburgischen hatten sich die Nachrichten verbreitet, und als im Laufe des Montags nach Rick, Anna und Steve kurze Zeit später Felix und André wieder zurück waren, fehlte nur noch Niklas.
Der war am Vormittag aus Dänemark aufgebrochen und stand kurze Zeit später ebenfalls wieder in der vereinten Runde.
Sven hatte inzwischen mit einem seiner Kollegen, dem er vertraute, kontaktiert.
Wie es aussah, waren die Haftbefehl gegen die jungen Leute ausgesetzt worden.
Svens Vorgesetzter Schmidtke war von seinem Posten zurückgetreten.
Es gab eine gewisse Unsicherheit unter den Kollegen, was man nun tun sollte, und vorsichtshalber hielt man sich allgemein zurück. Und er, Sven, brauchte nach dem jetzigen Stand der Dinge wohl auch keine disziplinarischen Maßnahmen zu erwarten; man hatte es so gedreht als hätte er einfach nur Urlaub; und von einem eventuellen Zusammenarbeiten seinerseits mit den jungen Leuten wüsste man offiziell nichts ...
Also konnte auch Sven ganz entspannt in die Zukunft schauen.
Das ganze Wochenende über hatte es kurzfristig angesetzte Bundestagsdebatten zu dem Themen gegeben. Am Dienstag trat die Bundeskanzlerin vor die Fernsehkameras und wandte sich an die Menschen.
Sie bat die Bevölkerung um Entschuldigung dafür, dass man sich in der Vergangenheit nicht um das Thema gekümmert habe.
Sie versprach, dass sich ihre Regierungspartei in Zusammenarbeit mit der Opposition nun mit Hochdruck daran machen würde, die Bedürfnisse der Kanazés zu berücksichtigen.
Sie berichtete konkret von bereits einberufenen Ausschüssen im Bundestag, die einzelne Aspekte untersuchen und diskutieren sollten.
Sie versprach bis spätestens Ende September erste gesetzliche Ergebnisse.
Sie versprach darüber hinaus, dass man denjenigen, die für die Restriktionen der Presse gegenüber verantwortlich gewesen waren, zur Verantwortung ziehen würde.
Und sie sagte, man habe eine bundesweite Anweisung veranlasst, dass gemäß des Gedankens hinter Artikel 3 des Grundgesetzes niemand aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Sub-Dom-Kultur bestraft, ignoriert oder in sonst irgendeiner Form benachteiligt werden durfte.
Die Freunde lagen sich in den Armen mit Tränen in den Augen.
Sie hatten erreicht, was sie erreichen wollten, und es war schneller geschehen, als sie gehofft hatten.
Natürlich lag noch ein langer Weg vor unserer Nation und vor allem vor der ganzen Welt, denn andere Staaten waren noch längst nicht so weit. Doch der Anfang war gemacht und es würde schnellere deutlichere Fortschritte geben, als man zu Anfang gedacht hatte.
Darüber hinaus gäbe es für die Macher des Videos, das alles ausgelöst hatten, eine Amnestie, da sie ja letztendlich Gutes bewirkt und für den dringend notwendigen Fortschritt im Land gesorgt hatten.
Es war ein unglaubliches Gefühl, als Flo, direkt nach dieser Rede, kaum anderthalb Wochen nach Veröffentlichung das Videos, eine Flasche Champagner öffnete.
Sie alle stießen an, fröhlich und ausgelassen.
Selbst Jako und seine Mutter ließen sich von der guten Stimmung anstecken, denn auch wenn sie traurig waren wegen der Dinge, die ihnen widerfahren waren, wussten sie, dass das, was hier geschah, etwas gutes war.
Und das war für sie, wie für alle in diesem Büro, doch einfach nur ein Grund zu feiern.
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