Marti war ohnehin Minuten nach Max und Flo eingetroffen und hatte genau so entgeistert und erschrocken vor dem Chaos gestanden, wie die beiden.
Die anderen Freunde hatten sie dann angerufen und man hatte beschlossen, sich gemeinsam im Büro zu treffen, aufzuräumen und die Lage zu besprechen.
Jetzt standen sie alle zusammen in der Büroküche, wo Max erst einmal eine große Menge Kaffee gemacht hatte – Rettungsanker in jedweder Situation – und überlegten, was sie tun sollten.
Nun, fast alle. Jako war noch nicht da.
„Es tut mir so leid, dass ich euch alle da mit reingezogen habe. Ich hätte das nicht tun sollen!“, sagte Flo gerade und schaute schuldbewusst in die Runde.
„Unsinn“, knurrte Anna, und Rick, der sich fest und schutzsuchend an sie schmiegte, sagte: „Ja, genau. Wir haben doch alle von Anfang an gewusst, dass das ganze nicht ungefährlich ist.“
Die Eingangstür rappelte. Sie öffnete sich, und Jako stürmte herein. Sein Blick suchte nach Marti, er erblickte ihn, rannte auf ihn zu und fiel in seine Arme. Marti hielt ihn, und spürte, dass Jako zitterte.
„Hey“, sagte er leise, „hey, ich hab dich. Ich bin bei dir.“
Jako begann zu schluchzen.
„Marti“, sagte er unter Tränen. „Ich bin ... als du angerufen hast und erzählt hast, was hier los ist, war ich gerade auf der Post ... ich bin noch mal schnell nach Hause, und da ... da waren Leute und haben unsere Wohnung auf den Kopf gestellt! Unsere Wohnung!“
„Scheiße!“, fluchte Marti.
„Verdammt!“, schimpfte Flo, und auch die anderen hielten sich nicht zurück.
„Dann werden sie bei uns anderen jetzt vermutlich auch sein“, sagte Niklas. Er war ganz bleich im Gesicht.
„Und was machen wir jetzt?“
Keiner von ihnen wusste darauf zu antworten.
Keiner hatte Erfahrung mit einer solchen Situation, und auch wenn sie damit gerechnet hatten, und auch wenn sie sich sagten: 'Wir haben doch nichts Verbotenes getan!' fühlten sie sich hilflos und hatten keinen Schimmer, wie sie sich jetzt verhalten sollten.
„Vielleicht könnten wir...“, setzte Flo unsicher an.
In diesem Augenblick klingelte Max' Handy.
* * *
Kriminalhauptkommissar Sven Schneider hatte sein Büro im Polizeirevier schon am frühen Morgen betreten. Dieser Fall mit dem verschwunden Polizeibericht und allem, was damit zusammenhing, brachte eine Mengen Ermittlungsarbeit, Lauferei und Papierkram mit sich, und er hatte das Gefühl, bis über beide Ohren in Arbeit zu versinken.
Die ganze Sache widerstrebte ihm in höchstem Maße.
Was offiziell die Untersuchung und Aufklärung einer Straftat sein sollte, hatte schon längst diese Grenze überschritten. Es ging jetzt nicht mehr nur um den Diebstahl von vertraulichen Unterlagen. Es ging um das Video und seine Auswirkungen, und vor allem war das ganze dabei, sich zu einer regelrechten Hetzkampagne gegen die Sub-Dom-Kultur und die damit verbundenen Menschen zu entwickeln. Und völlig egal, ob es sich dabei um eine relativ geringe Menge von Menschen handelte, wie die offiziellen Kanäle nach wie vor behaupteten oder ob es wirklich fast ein Drittel der Bevölkerung betraf. Was hier vorging, sprengte die Grenzen gediegener und von den Gesetzen getragener Polizeiarbeit.
Von letzterem war er inzwischen überzeugt, und es würde nicht so weitergehen wie bisher. Die Menschen würden sich die völlige Missachtung durch Medien, aber vor allem Gesetz und Politik nicht länger gefallen lassen.
Bereits am frühen Vormittag stellte er mit Hilfe der bundesweit vernetzten Polizeicomputer fest, dass es überall in Deutschland Anträge gab für Demonstrationen im Laufe der nächsten Tage und Wochen, Demonstrationen gegen diese Art der Nichtbeachtung. Überall in der Republik wollten Subs und Doms und ihre Unterstützer für ihre Bedürfnisse und Rechte eintreten.
Man versuchte, diese Anträge abzuweisen. Mit so fadenscheinigen Begründungen wie „Wahrung der öffentlichen Ordnung“, oder „befürchtete Ruhestörung und Gewaltexzesse durch die Gegner der Sub-Dom-Kultur.“ Das, fand Schneider, war die dümmste Begründung überhaupt, denn wenn Gewalt von anderer Seite zu erwarten war, dann war seiner Meinung nach die Aufgabe der Polizei nicht, die Demos zu verbieten sondern die Demonstrierenden zu schützen!
Nun, die Menschen schienen sich nicht beirren zu lassen. Auf sozialen Netzwerken machten Ankündigungen die Runde, dass die Demos trotz Verbots stattfinden würden. Dass es unangekündigte spontane Flashmobbs zu dem Thema geben würde.
Die Menschen waren es offenbar leid.
Und dann geschah etwas, was Schneider unerwartet dazu zwang, Position zu beziehen.
Etwas, was es ihm unmöglich machte, sich weiter hinter „ich mach ja letztendlich nur meinen Job“ zu verstecken.
Er wurde ins Büro seines Vorgesetzten gerufen, Polizeioberrat Schmidtke.
Er klopfte und trat ein. Schmidtke, der gerade noch in einem Telefongespräch war, winkte ihn herein und bedeutete ihm, sich auf den Stuhl ihm gegenüber zu setzten.
Er konnte nicht umhin, mitzubekommen, um was es in dem Gespräch ging.
„Ja“, sagte Schmidtke beinahe unterwürfig zu seinem Gesprächspartner am Fernsprechapparat, „wir werden die Verhaftungen veranlassen. Unverzüglich. Ja. Wegen ... Volksverhetzung? Ja. Das ist gut. Ja, ich werde umgehend Bescheid geben. Und dann ... ja, selbstverständlich Herr ... Oh. Ja, natürlich.“
Schneider schluckte.
War es jetzt also soweit?
Schmidtke legte den Hörer auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Dumme Sache“, sagte er in seiner gewohnt abgehackten Art und Weise.
„Dieses Video. Bringt die Leute auf. Stört den Frieden. Geht nicht, so was.“
Nun Schneider dachte anders darüber – war es nicht ein falscher, unechter Frieden? Der es verdiente, aufgestört zu werden?
Schmidtke nahm einen Stapel Akten vom Tisch.
„Hier“, sagte er mit rauer Stimme.
„Verhaften, diese Leute. Kümmern sie sich drum. Wenn die Fragen stellen, keine Auskünfte, klar? Nichts sagen, bevor wir sie nicht alle hier haben!“
„Natürlich, Herr Oberrat“, sagte Schneider und nahm den Stapel entgegen.
Es waren die Akten von Krüger, Mundt, den von Joikos, Rieck, Schuto und den anderen, die zu den kreativen Köpfen hinter dem Video gehörten. Oder zu den Unruhestiftern. Je nachdem, aus welcher Warte man das nun betrachtete.
„Ich kümmere mich darum“, sagte Schneider und verließ Schmidtkes Büro. Er ging zurück zu seinem Schreibtisch und legte die Akten darauf ab.
Verdammt, dachte er, was tue ich jetzt?
Er war Polizist geworden, um der Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen. Mit Gerechtigkeit hatte das hier nichts zu tun.
Er streckte sich und schenkte seinen Kollegen im Raum ein schräges, unechtes Lächeln.
„Muss mal für kleine Gesetzeshüter“, sagte er und ging hinaus auf den Flur und dann in Richtung der Toiletten. Er versuchte, bewusst normal und „unschuldig“ zu wirken, auch wenn er Blut und Wasser schwitzte bei seinem Vorhaben.
Gott sei Dank war er auf der Toilette allein. Er öffnete vorsichtshalber alle Kabinen, aber außer ihm war niemand hier.
Krügers Akte hatte zuoberst gelegen. Auf der Vorderseite standen die wichtigsten Daten. Name, Geburtsdatum, Adresse. Und Mobilfunknummer.
Letztere hatte er sich gemerkt.
Er nahm sein Handy aus seiner Hosentasche, tippte die Nummer ein und wählte.