Zu viert saßen sie um den großen Esstisch der WG herum und spielten Mensch ärgere dich nicht.
Ein ganz klassisches Mensch ärgere dich nicht, mit vier Farben, jeweils vier Figürchen, vier Häusern und jede Menge Spaß und Gelächter.
Sie hatten dieses Spiel herausgesucht, obwohl es inzwischen auch andere Varianten gab.
Nachdem nun endlich die Öffentlichkeit und Politik die Sub-Dom-Kultur anerkannt hatte und damit auch für die Wirtschaft keine Restriktionen mehr herrschten, hatte sich beinahe jede Branche der Sache bemächtigt.
Die Filmindustrie war dabei an vorderster Front. Kanazé-Filme und Serien verkauften sich gut.
Aber auch die Mode, die Spieleindustrie, je selbst die Lebensmittelindustrie schlachtete das ganze aus.
Und wie das so war, wenn es einen neuen Zug gab, auf den man aufspringen konnte, tat die Werbung genau das und übertrieb es dabei maßlos. Jeder noch so absurde Zusammenhang wurde dabei strapaziert.
Zum Beispiel bei kosmetischen Produkten.
"Das Duschgel für den Sub von heute - enthält Pheromone, die Ihren Dom garantiert in den Wahnsinn treiben!"
Man warb für eine speziell angepasste private Krankenversicherung.
"Egal, ob sie Sub oder Dom sind - wir von der Dingsbums Versicherung sehen die Welt aus Ihrer Perspektive!"
Und selbst diese bisher schon schlechte Nebenflüssler Müsliwerbung legte noch mal eine Schippe drauf, in dem sie behauptete:
"Gibt besonders viel Kraft für eine anstrengende Session!"
Es war im Augenblick wirklich schwer zu ertragen, aber früher oder später würde sich sicher auch das auf ein für Werbung normales Maß an Absurdität einpendeln.
Felix grinste bei diesem Gedanken .
Er würfelte eine Drei, setzte sein Figürchen und gab den Würfel an André weiter.
André gab sich ein wenig finster, wie immer. In Wahrheit jedoch genoss er das Zusammen sein mit seinen Freunden.
So eine Spielrunde, still und friedlich, ohne dass man sich Gedanken machen musste, was in der Welt geschah; ohne dass man befürchten musste, die Polizei oder schlimmeres stünde jeden Augenblick vor der Tür... Oh ja, seit den Ereignissen vom Sommer wusste er solche Momente um so mehr zu schätzen.
Er nahm den Würfel zur Hand.
Da alle seine Figürchen von seinen Mitspielern aus dem Spiel geworfen worden waren, durfte er dreimal Würfeln.
Er tat es, und der letzte Wurf war tatsächlich eine Sechs.
"Hah!" rief er, setzte eines seiner Steine wieder ins Spiel und warf dabei dasjenige von Steve vom Brett, dass sich gerade auf genau diesem Feld befand.
Dann reichte er grinsend den Würfel an Steve weiter.
"Menno", motzte Steve und nahm den Würfel entgegen. Aber was solls, er hatte immerhin noch seine drei anderen Männeken im Spiel.
"Bevor wir weitermachen, ich könnte noch ein Bier gebrauchen. Noch einer?"
Die anderen jedoch hatten noch genug, und so ging Steve schnell zum Kühlschrank, um sich eines zu holen.
"Nicht schummeln!", sagte er.
"Würden wir doch niemals tun!", rief André mit einer gespielten Empörung, die sie alle zum Lachen brachte.
Es tat gut, so mit den Freunden zu lachen. Es tat gut, so unbeschwert zu sein.
Die wenigen Tage im Sommer hatten auch Steve gelehrt, wie unbezahlbar so etwas war. Und sie hatten ihn gelehrt, wie tief die Freundschaft zu den andern "Mitverschwörern" war, wie sehr sie zusammenhielten. Zu wissen, dass es diese Menschen gab, auf die man sich auch in stürmischsten Zeiten verlassen konnte, das war etwas, was er nicht mehr missen wollte. Und das die ganze Aufregung wert gewesen war.
Abgesehen davon: keiner von den vieren hier am Tisch war selber Sub oder Dom. Und doch hatten sie sich alle für diese Sache eingesetzt, einfach weil sie die Ungerechtigkeit nicht ertragen konnten. Und das machte ihn stolz, zu dieser Gruppe von Freunden dazuzugehören.
Sein bester Freund war Rick, der jetzt um diese Zeit mit seiner Frau Anna in seinem zu Hause war. Rick war ein großartiger Kumpel, der in seiner Rolle als Annas Sub geradezu aufging, und irgendwie, ein klitzekleines bisschen, beneidete Steve ihn beinahe darum, dass er so genau wusste, wo sein Platz auf der Welt war.
Nun, er, Steve, war anders, doch für ihre Freundschaft spielte das keine Rolle. Sie war stark und fest und gut, und was sie im Sommer gemeinsam mit ihren Freunden geschafft hatten, hatte das ganze nur gefestigt.
Jetzt jedoch konzentrierte Steve sich aufs Würfeln, erreichte zweimal hintereinander eine Sechs und konnte damit sein erstes Männchen ins Haus bringen.
"Hah!", rief er triumphierend und gab den Würfel an Niklas, den vierten im Bunde, weiter.
Niklas war einfach nur glücklich.
So mit Freunden zusammen sein und die Schönheit des Augenblicks genießen, das war etwas, was er sehr zu schätzen wusste. Er liebte solche Momente.
Um genau zu sein liebte er viele Momente; Niklas war ein Mann des Augenblicks, des hier und jetzt. Er machte sich selten Sorgen um die Zukunft. Er freute sich über das jetzt oder ärgerte sich über das jetzt; doch sich um das zu bekümmern, was ihn erwartete, war nicht seins.
Auch in jenen Tagen im Sommer hatte er das, was zu tun war, von Augenblick zu Augenblick so genommen, wie es kam; und so war es wohl gekommen, dass er in jenen Tagen am wenigsten Angst gehabt hatte und am entspanntesten gewesen war.
Wenn man ihn nach seinen Erinnerungen fragte, kam als erstes das Festival in Dänemark. War geil gewesen.
Und dann natürlich das Video, und was sie erreicht hatten.
Aber die Sorge, die die anderen dabei gehabt hatten, dass das ganze vielleicht in eine Art Bürgerkrieg ausarten könnte - so etwas war komplett an ihm vorbei gegangen.
Nun, wie auch immer.
Jeder von ihnen war anders mit der Sache umgegangen und aus der Sache herausgekommen.
Doch eines hatten sie gemeinsam.
Sie waren froh über das, was sie erreicht hatten
Und ein wenig stolz darauf, dazu beigetragen zu haben.
Und vor allem freuten sie sich für ihre Sub-Dom Freunde.
Darüber, dass die ihr Leben nun in Menschenwürde leben konnten, wie es eigentlich jedem Menschen zustehen sollte.
Die Zukunft würde für sie alle gutes bereithalten.
Niklas schmunzelte, als der Würfel rollte und schließlich auf der Kante des Spielbretts auf Kipp liegenblieb.
Der Würfel mochte auf Kipp stehen.
Doch ihrer aller Freundschaft nicht.
Und das war doch ein guter Grund zum glücklich sein.