Am frühen Nachmittag des gleichen Tages, als Marti und Jako noch mit dem blauen Renault in Richtung Süden unterwegs waren, war Kriminalhauptkommissar Schneider mit Olli, Max und Flo im Schlepptau am Bungalow seiner Großeltern angekommen, der nicht mehr genutzt wurde, seit die beiden alten Leutchen verstorben waren.
Sie hatten Berlin in der anderen Richtung verlassen, hatten dabei in einem kleinen Laden ein paar Lebensmittel eingekauft. Dann waren sie im großen Bogen um die Stadt herum gefahren, und zwar auf kleinen Nebenstraßen. Das würde ihre Spur vorerst ein wenig verwischen.
Der Bungalow lag auf brandenburgischem Gebiet, also jenseits der Stadtgrenze, in einer Feriensiedlung, die noch zu DDR-Zeiten erreichtet worden war. Sie lag versteckt in einem Kiefernwald. Die Häuschen waren alles Feriendomizile und daher nicht dauerhaft bewohnt; allerdings waren im Moment Ferien, na ja, daher waren einige belegt. Aber man kannte sich hier nicht, wie es bei regulären Nachbarn der Fall gewesen wäre, und das war ganz gut so.
Ein wenig verstaubt war es, als sie verschwitzt und erschöpft das Häuschen betraten. Es war lange niemand mehr hier gewesen. Aber das würde schnell einigermaßen wohnlich hergerichtet sein, immerhin war alles noch vorhanden. Sogar der kleine Kühlschrank funktionierte, wie Schneider feststellte, als er ihn an den Strom anschloss. Also legte er erst einmal ein paar Flaschen Wasser kalt.
Sie hatten das Auto hinten auf dem Grundstück geparkt und die Tür hinter sich verschlossen, nachdem sie das Häuschen betreten hatten.
Sie hatten die Lebensmittel im Kühlschrank verstaut, und erst einmal durchgeatmet.
Dann jedoch konnte Olli nicht mehr an sich halten.
Er platzte heraus:
„So, ich will jetzt verdammt noch mal wissen, was los ist! Warum, zum Teufel, sind wir aus einem Polizeirevier abgehauen und sind auf der Flucht?“
Olli war ja normalerweise nicht so schnell kleinzukriegen. Aber in diesem Augenblick wirkte er, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen.
Also trat Max zu ihm und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.
„Komm“, sagte er leise. „Setzen wir uns.“
Sie setzten sich um den Sprelacard- Küchentisch, altes DDR- Fabrikat, und Schneider begann, zu berichten, was im Polizeirevier vorgefallen war.
„Der amerikanische Geheimdienst also“, sagte Olli geschockt, als Schneider geendet hatte.
„Verdammt, verdammt, verdammt. Was geschieht hier nur mit uns?!“
„Ja“, sagte Schneider, „ich hatte keine Zeit, lange zu überlegen, ich musste handeln. Und es schien mir das richtige, Sie erst einmal aus der Schusslinie zu bringen.“
„Danke“, sagte Flo leise. „Ich glaube, wir haben gar keine andere Wahl gehabt, als zu verschwinden. Ich möchte mir nicht vorstellen...“
Er schauderte.
„Tja, und wie geht es jetzt weiter, Herr Kriminal ...“
„Sven!“, sagte Schneider, und Flo schaute einen Augenblick verblüfft.
„Ich weiß ja nicht, wie Sie das sehen, Herr Mundt, aber ich denke in Anbetracht der außergewöhnlichen Umstände, ist da nicht das Du angebracht? Ich heiße jedenfalls Sven.“
Und er streckte Flo die Hand hin.
Flo warf Max einen Blick zu, der um Erlaubnis bat. Max nickte leicht, und Flo ergriff Svens Hand.
„Ich heiße Florian. Flo“, sagte er.
„Und ich bin Olli“, sagte Olli.
Flos Dom streckte Sven ebenfalls die Hand hin. „Ich heiße Max“, sagte er, „und ich bitte dich, Flo nicht direkt anzusprechen. Situation hin oder her, aber ich schütze ihn, er ist mein Sub, und so sehr ich deine Hilfe zu schätzen weiß, sind wir für Vertraulicheres noch nicht befreundet genug.“
Sven grinste schief.
„Sorry. Sub-Dom-Etikette, oder?“
„Genau“, sagte Max und lächelte versöhnlich.
Flo jedoch ärgerte sich über Max. Hallo, Sven hatte immerhin eine Menge riskiert, um sie aus der Schusslinie zu bringen. Da musste Max sich doch nun weiß Gott nicht so aufführen!
Er verschränkte die Arme vor der Brust und legte sein Gesicht in finstere Falten.
Max sah ihn überrascht an und zog die Augenbrauen hoch.
„Was ist los, Kleener?“, fragte er.
„Du benimmst dich absolut peinlich“, sagte Flo säuerlich.
Max packte ihn am Kinn.
„Jetzt hör mal gut zu, mein Schatz. Ich dulde hier keine Trotzanfälle, klar? Du weißt genau wie das läuft. Ich bin derjenige, der für dich entscheidet, und ich kenne dich. Ich weiß, wie sehr dir das alles zusetzt und ich versuche nur, dir ein bisschen Geborgenheit in all dem Chaos zu geben. Und wenn du hier herumzicken möchtest, finde ich bestimmt auch in diesem Bungalow ein ruhiges Eckchen, in dem ich dir den Hintern versohlen kann. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
Und dann setzte er Flo einen liebevollen Kuss auf die Stirn.
Flo schluckte.
Das war ihm nun wirklich peinlich.
Aber gleichzeitig durchströmte ihn Wärme. Das Gefühl, dass Max trotz all dem war hier geschah, für ihn da war; ihn schützte und behütete und sich um ihn sorgte; ihm seine Grenzen aufzeigte und so für ein wenig Stabilität in all dem Durcheinander sorgte; dass Max ihn einfach so unfassbar liebte, ließ ihn ruhig werden und den Kopf wieder ein wenig frei kriegen.
Er spürte, wie er dankbar war, dankbar und gleichzeitig stolz, Max' Sub zu sein.
Und ja, er spürte in diesem Augenblick ganz besonders, wie innig er Max liebte.
„Es tut mir leid“, sagte er.
„Schon gut“, sagte Max und strich ihm sanft übers Haar. „Ist halt für uns alle in bisschen viel.“
Sven räusperte sich verlegen.
„Ich bin ... halt nicht so firm mit eurem Umgang ... aber ich werde mich bemühen, okay? Ich respektiere, was ihr seid.“
„Du bist selber kein Kanazé, oder?“, fragte Olli neugierig.
„Nein“, sagte Sven. „Weder Dom noch Sub.“
„Ich auch nicht“, sagte Olli. „Aber Flo hat recht: wie geht es nun weiter?“
„Wir werden hier nicht ewig bleiben können“, sagte Sven. „Vielleicht ein paar Tage, ich weiß nicht, wie lange wir hier sicher sind. Aber wir können durchatmen, und überlegen, was wir jetzt tun. In den vergangenen Tagen ist die Welt dabei, sich umzukrempeln. Wer weiß, wie es Ende der Woche aussieht, was sich bis dahin alles tut ...“
Flo beugte sich zu Max und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Max zog tief die Luft ein und nickte.
Dann wandte er sich an Sven.
„Mein Sub denkt, dass es da etwas gibt, was du wissen solltest. Und in Anbetracht der Lage denke ich, dass er recht hat.“
Sven schaute ihn fragen an, während Max tief Luft holte und zu sprechen ansetzte.