Am Dienstag hatte Klaus ein wenig frische Kleidung gebracht.
Später hatte dann Marita angerufen. Sie hatte die Festnetzverbindung der Hütte angewählt, denn die Handys benutzten sie nicht. Das erschien ihnen zu gefährlich, und ehrlicherweise war Marti ziemlich verblüfft, dass nicht schon längst Polizisten oder andere Gestalten mit ernsten Gesichtern und unguten Absichten vor der Hütte gestanden hatten.
Sie rief also an und bedankte sich für ihr kleines Geburtstagspäckchen, das mit der Post gekommen war.
Sie plauderten ein bisschen. Jako hatte das Gespräch auf den Lautsprecher gestellt. Und nun überlegten er und Marti krampfhaft, wie sie das Gespräch unverfänglich auf den bestimmten Umschlag bringen könnten, den das Päckchen ja auch noch enthalten hatte.
Doch dann war es Marita selber, die das Gespräch darauf lenkte.
„Ach, Jungs, der Umschlag, den ihr da mit rein gepackt habt. Ich habe ihn zur Seite gelegt. Was ist denn da drin?“
Jako räusperte sich.
„Ein Stick mit ... Fotos. Sollte eigentlich ne Überraschung für Marti sein, wenn wir bei euch unseren Hochzeitstag gefeiert hätten, aber durch das ganze Durcheinander ...“
„Verstehe“, sagte Marita. „Also Jungs, ich wollte morgen vorbeikommen, um euch ein bisschen frisches Gemüse zu bringen ...“
Das war so typisch seine Mama, dass Jako einfach schmunzeln musste.
„... und dann kann ich euch diesen ... wie heißt das? Stick? ... mitbringen, wenn ihr möchtet.“
„Ja gerne“, sagte Jako und nickte Marti zu.
Wie versprochen tauchte Marita am Mittwoch Nachmittag auf, einen großen Korb Gemüse und Obst im Schlepptau. Klaus hatte zu tun, der war in seinem Arbeitszimmer geblieben und hatte wohl verschiedene Sachen für die Firma zu erledigen, jedenfalls war er wohl ganz schön gestresst.
„Na ja“, sagte Marita, „eure Lage und alles was damit zusammenhängt macht uns eben beiden zu schaffen. Jungs, wir haben Angst um euch.“
Jako nickte.
„Mama, das verstehe ich, aber du verstehst sicher auch, dass das alles sehr wichtig ist“, sagte er.
„Stimmt“, sagte Marti, „im Grunde hatten wir keine andere Wahl, als ihm zu helfen, als unser Freund Flo uns um Hilfe gebeten hat. Auch wenn dein Herr Sohn sich erst angestellt hat.“
Jako schaute schuldbewusst drein, aber Martis Hand glitt beruhigend über Jakos Rücken und Po.
„Es ist einfach nicht akzeptabel, dass Menschen in ihren Rechten beschnitten werden auf Grund dessen, was sie sind. Das eine ganze Bevölkerungsgruppe komplett ignoriert und außen vor gelassen wird ...“
„Schon gut“, sagte Marita leise. „Mich müsst ihr nicht überzeugen. Aber das ändert nichts an meiner Angst um euch.“
Sie griff in ihre Handtasche.
„Hier habt ihr dieses ... Ding.“
„Danke“, sagte Jako und schmunzelte.
Er wollte danach greifen, doch überraschender Weise zog Marita ihre Hand zurück.
„Sagt mal“, sagte sie und schaute misstrauisch auf ihren Herrn Sohn.
„Kann das sein, dass da noch was anderes drauf ist? Etwas, was was mit eurem ... Problem zu tun hat?“
Hitze durchflutete Jako.
Und Marti schnappte nach Luft. „Nein, Marita, ganz bestimmt nicht“, sagte er schnell.
Seine Schwiegermutter sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Marti von Joiko, verkauf mich nicht für dumm! Ich bin vielleicht altmodisch, aber ich bin nicht naiv. Und ich bin ganz bestimmt noch in der Lage, zu spüren, wenn meine Jungs etwas vor mir zu verbergen versuchen! Das spürt man als Mutter!“
Und sie tappte ungeduldig mit der Fußspitze auf.
Die beiden Männer schwiegen. Keiner wusste so recht, wie er jetzt auf die Schnelle reagieren sollte.
„Ganz ehrlich“, sagte Marita, „ich glaube euch kein Wort. Ich sehe euch das an der Nasenspitze an. Warum solltet ihr den Stick mit Fotos an uns schicken? Die Geschichte von wegen Überraschung und so weiter ist unlogisch. Ich hab sie vielleicht im ersten Moment geglaubt. Aber jetzt, wo ihr hier so vor mir steht ... glaube ich euch nicht eine Sekunde länger.“
„Mama!“
Jako wand sich regelrecht unter ihrem inquisitorischen Blick.
Marti dagegen entschloss sich zur Flucht nach vorn.
„Marita, du hast recht.“
Sie holte tief Luft.
„Aber“, fuhr Marti fort, „bitte, gib uns den Stick. Es ist wichtig, dass wir uns darum kümmern. Es ist wichtig, dass du so wenig wie möglich darüber weißt. Und es ist wichtig, dass du niemandem, hörst du, wirklich niemandem davon erzählst!“
Man merkte Frau von Joiko an, dass sie mit sich kämpfte.
„Mama, bitte“, bat nun auch Jako.
„Ich weiß, du willst uns beschützen, Aber das kannst du nicht, in dem du uns den Stick vorenthältst. Wir stecken schon tief drin, und du und Papa auch, weil ihr uns geholfen habt. Der Stick und sein Inhalt können es nicht mehr schlimmer machen ...“
Nun, so ganz stimmte das vielleicht nicht ...
„... sondern höchstens helfen, die Ereignisse anzukurbeln und so früher oder später alles zu einem hoffentlich guten Ende zu bringen.“
Und innerlich betete er, dass er recht hatte, mit dem, was er da sagte.
„Gut“, sagte Marita schweren Herzens.
Dann reichte sie Marti den Stick.
„Ich vertraue darauf, dass ihr wisst, was ihr tut. Und ich denke ja ebenso wie ihr, dass etwas geschehen muss.“
Sie seufzte.
„Immerhin betrifft es so viele Menschen, die ich kenne und die mir etwas bedeuten. Zuallererst euch. Und ... Klaus.“
„Danke, Marita.“
„Und ja, ich verspreche euch, dass ich mit niemandem darüber rede.“
„Danke, Mama.“
Außer mit Klaus, dachte sie, aber das muss ich ja nicht erwähnen, dass dürfte den Jungs ja klar sein.
Sie setzte sich mit einem unguten Gefühl, ach nein, sagen wir wie es ist, mit einer verdammten Angst ins Auto.
Weniger Angst um sich selbst, ach Gott, sondern Angst um die Menschen, die sie liebte.
Marita hatte ein behütetes Leben geführt. Ja, sicher, in ihrer Jugend war manchmal das Geld knapp gewesen, aber nie so, dass es dramatisch gewesen war. Es hatte für das nötigste immer gelangt.
Der größte Ärger in ihrem Leben war der Liebeskummer als junge Frau gewesen, als sie verlassen worden war ... und später dann Jakos Rebellion gegen die alten Traditionen der Familie.
Es war jetzt das erste mal in ihrem Leben, dass sie sich wirklich um etwas ernsthaft sorgen musste.
Und es drückte ihr die Eingeweide zusammen und sorgte für ganz unangenehme Stolperer ihres Herzens.
Hoffentlich geht das alles gut, dachte sie.
Hoffentlich geht das alles am Ende gut.