Es war inzwischen halb drei Uhr morgens in der kleinen Stadt in Süddeutschland. Marti, Jako und Marita saßen im Büro, von dem aus Klaus von Joiko noch bis vor wenigen Stunden versucht hatte, maßgeblich die Geschicke der Welt mitzugestalten.
Marita saß wie versteinert in dem bequemen Ohrensessel neben der Büchervitrine.
Sie weinte nicht mehr, sie zitterte nicht mehr ... das alles hatte sie schon vor Stunden hinter sich gelassen, nachdem sie die jungen Männer abgeholt hatte und Marti mit Jakos Unterstützung versucht hatte, ihr zu erklären, was eigentlich geschehen war.
Ja, da hatte sie geschluchzt, geschrien, geschimpft ... einfach weil sie nicht verstand. Klaus, ihr Klaus ein ... Geheimdienstler? Oder etwas ähnliches? Und … eine Autobombe? Ein Anschlag auf sein Leben?! Und ... er war weg, sie würde ihn nie wieder sehen?
Warum??!
Die Gefühle, die Angst, die Wut, die Verzweiflung hatten gedroht, sie zu überwältigen, und sie hatte alles aus sich raus gelassen.
Doch nun ...
Inzwischen hatten sie hier, zu Hause, oder besser in dem Haus was bis heute für sie ihr zu Hause gewesen war, das Geheimfach in Klaus' Büro geöffnet und hatten den Stick, der dort lag, an Klaus Laptop angeschlossen. Sie hatten Dokumente gelesen, Fotos gesehen, Berichte studiert...
Und dann hatte Marti einen zweiten Stick entdeckt und auf dem war, nun, wie sollte man es bezeichnen ...
eine Art „Wenn ihr das hier seht, bin ich nicht mehr am Leben“-Film.
Und auch, wenn das nicht stimmte, denn soweit sie wussten, war Klaus durchaus am Leben und unverletzt, nur eben fort, hatte dieser Film Marita den Rest gegeben.
Sie hatte sich angesehen und angehört, wie Klaus über seine machtvolle Tätigkeit im Hintergrund berichtete. Wie er erzählte, was er alles getan hatte, was er beeinflusst hatte, wie er Druck ausgeübt, bedroht, manipuliert und die Fäden gezogen hatte.
Und wie er all das damit entschuldigt hatte, zum Wohle der Allgemeinheit zu handeln.
Klaus. Ihr Klaus.
Der Mann, den sie aus tiefstem Herzen liebte. Der ihren Sohn gemeinsam mit ihr großgezogen hatte, wie ein leiblicher Vater.
Der ihr gegenüber immer so warmherzig und großzügig gewesen war.
Der ihr Stärke und Mut gegeben hatte, Freude, Wärme und Geborgenheit.
Der sie offenbar ein ganzes Leben lang belogen und hintergangen hatte.
Wie sollte sie mit so etwas zurechtkommen?
Sie hatte keine Kraft mehr gehabt zum Weinen. Sie spürte nur noch Kälte.
Sie starrte in die Ferne, abwesend, apathisch, und spürte eine kalte Faust ihr Herz umschließen.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie mit all dem zurecht kommen sollte.
Das einzige, was sie davon abhielt, sich auf der Stelle ein Messer in die Brust zu stoßen – nun ja, mal abgesehen von einer gesunden Portion Feigheit; sie hätte so etwas vermutlich nie wirklich fertiggebracht, dem Himmel sei Dank dafür – jedenfalls, was sie davon abhielt, etwas überaus dummes zu tun war Jako, und die Tatsache, dass ihr Sohn sie jetzt brauchte. Mehr als je zuvor.
Jako saß auf dem Schreibtischstuhl und hatte den Kopf in die Hände gestützt.
Er fühlte sich ebenfalls furchtbar, alles das was sie in den letzten Stunden über Klaus erfahren hatten, drückte ihm beinahe das Herz ab.
Sein Vater – sein Stiefvater eigentlich, wie er heute erst erfahren hatte doch das war nun tatsächlich eine Sache, die für ihn keine Rolle spielte, denn Klaus hatte ihn großgezogen wie einen leiblichen Sohn – war nicht der, der er geglaubt hatte. War so viel mehr und so viel dunkler und mächtiger gewesen und hatte Dinge getan, die er sich nicht einmal vorstellen konnte.
Sein Blick glitt zu Marti, der an der Wand gelehnt stand. Martis blaue Augen ruhten auf ihm und schenkten ihm ein ruhiges, warmes Funkeln.
Marti war sein Fels in der Brandung. Marti, sein Geliebter, sein Mann, sein Dom.
Er war es, der Jako die Kraft gab, die er nun brauchte, um mit all dem zurechtzukommen und sich nicht unterkriegen zu lassen.
Er, und die Gewissheit, dass er immer zu Jako halten würde, für ihn da sein würde und ihn in allem unterstützen würde.
Jako ließ den Blick zu seiner Mutter schweifen. Es zerriss ihm fast das Herz, zu sehen, wie sie litt.
Er musste für sie stark sein, das wurde ihm klar. Er liebte sie, und würde nicht zulassen, dass sie an all dem zerbrach.
Wieder glitt sein Blick zurück zu Marti.
Der stieß sich von der Wand ab und kam auf Jako zu. Er nahm das Gesicht seines Mannes in die Hände, beugte sich zu ihm und küsste ihn sanft auf die Stirn.
„Wir schaffen das, hörst du?“ flüsterte er ihm liebevoll zu.
Jako schluckte.
Er hatte immer noch Angst und sein Herz schmerzte. Doch er vertraute Marti. Ja, sie würden es schaffen. Gemeinsam würden sie zurechtkommen.
„Wie ... wie geht es jetzt weiter?“, fragte Jako mit schwacher Stimme.
Marti atmete tief ein.
„Ich weiß es nicht. Aber. ..“
Er strich Jako über die Wangen.
„Wir drei sollten jetzt erst einmal schlafen gehen. Morgen früh überlegen wir dann mit frischen Kopf, was wir tun. Ob wir hier bleiben oder wieder nach Berlin gehen ... Wer weiß, wie sich die Lage bis morgen entwickelt und was noch alles geschieht!“
„Ma ...Marti?“
Leise und krächzend hatte Marita gesprochen.
Marti ging zu ihr, hockte sich vor ihr auf den Teppich und legte die Arme um seine Schwiegermutter.
„Marti ... bitte ... ich kann nicht hier bleiben. Ich kann nicht allein sein ... Wenn ihr nach Berlin geht, bitte lasst mich nicht allein hier zurück ...“
Marti nickte.
„Keine Sorge, Mama. Wir lassen dich nicht allein. Weißt du, wir brauchen dich. Brauchen deinen Trost im Moment genau so sehr, wie du unseren.“
Und er legte seine Stirn gegen ihre.
„Danke“, sagte Marita und ja, sie war dankbar.
Dankbar für diesen tollen jungen Mann, der ihr Schwiegersohn war, und der jetzt, inmitten einer Krise geradezu biblischen Ausmaßes, jedenfalls fühlte sie sich so an, die Ruhe bewahrte und für sie und ihren Sohn da war.