In den nächsten Monaten probierte ich mich selbst aus. Ich bemerkte, dass es Tage gab, an denen ich meine Weiblichkeit sehr zur Schau stellen wollte, und dass es Tage gab, an denen ich mir lieber die Brust abband und in weiten Shirts nach draußen ging. In jedem Fall sind Maskulinität oder Feminität eher eine Ästhetik, die ich für mich nutze, ähnlich wie die Ästhetik von Gothic, Punk oder Anime Elementen. Kleidung ist geschlechtslos.
Außerdem bemerkte ich, dass ich es wirklich nicht mochte, als Frau bezeichnet zu werden. Lange Zeit sagte ich nichts, doch immer, wenn mich jemand "Tochter", "Frau", "Mädchen" oder ähnliches nannte, zuckte ich innerlich zusammen. Ich war zwar daran gewöhnt, doch das klang ähnlich fremd wie "Das ist Wiebke, mein Sohn." Passt nicht. Das bin nicht ich. Ich begann, Andeutungen zu machen. Doch Andeutungen genügen nicht; Das wurde mir klar, als mich mein Vater mit "Pass auf dich auf, junge Frau" verabschiedete, nur gefühlte zwei Minuten, nachdem ich ihm gesagt hatte, dass ich mich unwohl fühle mit dieser Art Geschlechtszuweisung.
Es gibt einige andere Gründe, weshalb ich in den letzten Jahren eine Therapie besucht habe. Auch hier habe ich immer wieder fallen gelassen, dass ich mich nicht als weiblich einordne. Vor einigen Wochen war ich das letzte Mal dort und in gewisser Hinsicht war diese Sitzung für mich der Startschuss. Ich wollte mich nicht länger verstecken, sondern klar sagen, wer ich bin.
An dieser Stelle möchte ich meine Haltung zu Coming-Outs im allgemeinen anmerken. In einer idealen Welt sollte ein Coming Out zur Sexualität nicht nötig sein. Man liebt, wen man liebt, und das ist erst einmal im Grunde wunderschön. Liebe ist nichts, was man verheimlichen sollte, und genau das wird durch ein Coming Out unterstrichen. Ein Coming Out sagt im Prinzip: "Ich bin Außergewöhnlich. Ich bin nicht wie ihr. Das solltet ihr wissen." Dabei ist doch jeder in seinem Leben und Lieben so einzigartig, wie es nur geht. Ich wünsche mir, dass ein coming out mehr den Charakter bekommt von "das ist ein Teil von mir, den ich gerne mit dir teilen möchte". Ähnlich wie man ein Hobby teilt oder über eine Serie sprecht, von der man begeistert ist.
Ich selbst habe mich lange Zeit als Pansexuell identifiziert. Das bedeutet im Prinzip, dass ich keinen Unterschied zwischen Geschlechtern und Identitäten mache. Es ist also auch abseits von der Heteronormativität. Ich habe das nie verheimlicht, aber ich habe mich auch nie mit meinen Eltern an den Tisch gesetzt und gesagt: "Mama, Papa, ich bin eine Pfanne." Gleichzeitig hatte ich aber auch das Privileg, dass meine Eltern immer recht offen mit der Möglichkeit von queeren Beziehungen umgegangen sind. Viele haben das nicht. Eine Freundin beschrieb ihr Coming out auch eher als ein "hey, das hier hat mich in letzter Zeit sehr beschäftigt, und ich möchte das gerne mit dir teilen." Ich denke, was ich mir wünsche ist, dass die eigene Sexualität nicht gleich ein politisches Statement ist.
Bei Geschlechtsidentitäten wird es schon etwas komplizierter. Hier geht es darum, wie eine Person von anderen behandelt wird. Ein einfaches Beispiel ist die Transsexualität. Wurde man in einen weiblichen Körper geboren, wird man auch erst einmal wie eine Frau behandelt. Daran wird sich auch nichts ändern, solange man nicht sagt: "Jo, ich bin ein Kerl. Sieht vielleicht nicht so aus, ist aber so. Wo bleibt meine Testosteron-Spritze?" Genauso ist das bei allen anderen sozialen Geschlechtern auch.
Obwohl ich durch Freunde und Erfahrungsberichte also relativ vertraut mit der Thematik des Outings war, ist das dennoch ein sehr fremdartiger und merkwürdiger Schritt für mich. Mir war an dem Abend nach der Therapie-Sitzung klar: Ich muss jetzt mal etwas ganz klar sagen, was vielleicht schwer zu verstehen ist. Und wenn ich das mache, dann mache ich es richtig.