"Ich verstehe nicht, was mit dir los ist", sagt mir Onkel Richard offen ins Gesicht. "Für mich wirst du immer meine Nichte Wiebke sein."
Mein Opa hat Geburtstag, weswegen ich mich wieder auf einer Familienfeier befinde, zu der auch einige Freunde eingeladen sind. Gerade noch habe ich mich mit einem Kindheitsfreund meines Vaters über Sozialisation und die strukturelle Diskriminierung von Frauen gesprochen, und natürlich sind wir darüber auch auf das Thema gestoßen, welches mich momentan am Meisten umtreibt.
"Natürlich liebe ich dich immer noch wie vorher", fährt mein Patenonkel fort. "Die Sorge, die ich bei dir habe, ist die, dass du dir das Leben damit unnötig schwer machst."
Für die Dauer dieser Worte erstarrt meine Welt. "Ich mache es mir nicht schwer", sage ich heiser, "Menschen wie du tun es." Unter der Erstarrung in mir spüre ich heiße Wut hochlodern. Es ist in Ordnung, dass er es nicht versteht. Immerhin reiße ich ein komplexes Thema an, das sämtliche bekannte Strukturen auseinanderbrechen will - zumindest scheint es anfänglich so. Manchmal ist es selbst mir zu komplex und verwirrt mich. In diesen Momenten überkommt mich oft der Selbstzweifel.
"Ich habe mir das nicht ausgesucht, Onkel Richard. Ich bin nicht eines Morgens mit dem Gedanken aufgewacht, es wäre eine gute Idee, mich etwaigem Unverständnis und daraus resultierender Ablehnung auszusetzen. Das ist es, wer ich bin, Richard, und ich habe das Recht, diesen Teil von mir auszuleben. Ich will mich nicht verstellen müssen, damit uneinsichtige und ignorante Menschen wie du sich auf ihren festgefahrenen Vorstellungen ausruhen können!" Meine Wangen sind heiß und mein Herz wummert schnell, während ich mich in Rage rede. Auch meine Stimme ist lauter geworden, was aber im Gelächter der anderen Gäste, die in andere Gespräche verwickelt sind, unter.
"Bleib mal ruhig", sagt Onkel Richard. Ich muss mich zusammenreißen, um ihm nicht sämtliche Beschimpfungen an den Kopf zu werfen. "Niemand verlangt von dir, dich zu verstellen, außerdem-"
"Doch, genau das verlangst du gerade!", unterbreche ich ihn fiepsend. "Genau das hast du gerade gesagt. Du hast gesagt, dass ich mir das ganze nur einbilde. Dass ich eine Frau bin und mich auch so geben soll. Um deine Realität nicht durcheinander zu bringen, muss ich mich also verstellen, denn ich bin keine Frau!" Von den letzten Worten betone ich jedes einzelne. "Das ist so, als würdest du jeden Tag gezwungen werden, ein Kleid zu tragen."
Onkel Richard schüttelt den Kopf, als wäre keines meiner Worte von Bedeutung. "Ich mache mir nur Sorgen, dass du durch dieses Nonbinary-sein deine Zukunft vernachlässigst."
Erst jetzt bemerke ich allmählich den Kloß, der sich in meiner Kehle festgesetzt hat, und meine zitternden Hände. "Das ist nicht mein gesamter Lebensinhalt", sage ich leise. "Ja, ich bin nonbinär, und ja, es ist mir wichtig, entsprechend behandelt zu werden. Dafür kämpfe ich. Aber ich bin immer noch dieselbe Person! Ich male, ich interessiere mich für Psychologie, ich mache unangebrachte Witze und ich bewerbe mich für Unis - Ich bin keine Fremde geworden!" Tränen steigen mir in die Augen, als ich in dieses leere Gesicht vor mir schaue, das mich nicht sehen kann. Hastig lege ich mein Besteck zusammen und stehe mit einer schnellen Entschuldigung auf. Was Onkel Richard sagt, höre ich nicht mehr, und ich will es auch gar nicht hören.
Ich hatte immer gewusst, dass ich auf Ablehnung stoßen werde, und insgeheim habe ich geahnt, dass ich dem innerhalb meiner Familie begegnen werde. Doch etwas zu erahnen und mit ebendem konfrontiert zu werden, ist etwas vollkommen unterschiedliches.
Das Damenklo betrete ich mit geschlossenen Augen, um das Schild an der Tür nicht zu sehen. Erst dort schaffe ich es, einigermaßen durchzuatmen. Die Feierlichkeit verlassen wir dennoch verfrüht.