Heute frage ich mich, ob das, was ich tue, echt ist, und ob es sich überhaupt lohnt.
Ich bin kräftig am menstruieren, und während ich mich normalerweise nur über die Schmerzen beschwere, sitze ich heute morgen heulend am Küchentisch, weil es zu früh ist, um Minzeis zu essen. Ich weiß genau, wie irrational das ist, und das ärgert mich ungemein, weshalb ich noch mehr heulen muss. Die Hormone in meinem Körper spielen verrückt, als ob sie mir sagen wollten: "Sieh her, du bist eine Frau. Verstell dich nicht und kämpf nicht dagegen an. Frau."
Ich fühle mich zwar hundeelend, aber nach einer schnellen Dusche geht es mir etwas besser. Gestärkt mache ich mich auf den Weg zur Arbeit.
In den letzten drei Wochen hatten wir eine sehr nervige Vertretungssituation, doch heute soll für mich zum ersten Mal wieder Alltag einkehren. Ich freue mich darauf, und als ich mir einen Tee mache, spüre ich allmählich die gewohnte professionelle Kraft in mir aufsteigen. Heute wird ein guter Tag.
Dachte ich zumindest. Denn ich habe ganz vergessen, dass einige Jungs in meiner Klasse gerne mal sexistische Kommentare machen. Normalerweise ignoriere ich sie weitesgehend oder habe eine schlagfertige Antwort darauf, doch heute fühle ich mich von ihnen besonders angegriffen. Das liegt einerseits natürlich an meiner geliebten Periode, andererseits muss ich ständig daran denken, dass diese Kommentare darauf basieren, dass die Jungs denken, ich wäre eine Frau. Nichts anderes sehen sie in mir, und ich kann es ihnen nicht einmal verübeln. Jedoch merke ich deutlich, dass es mir irgendwo weh tut, und dass ich definitiv nicht so behandelt werden will. Ich brauche eine Veränderung, doch ich weiß nicht, ob das angebracht ist. Ich weiß nicht, ob ich das weiter mit mir herumtragen soll, immerhin sind es nur noch knapp drei Monate, oder ob ich es aussprechen soll. Und wenn ich es ausspreche: Welcher Rahmen ist angebracht? Wie vermittele ich das den Jungs am Besten? Hat das überhaupt einen Sinn?
Der Unterricht verläuft bis auf diese paar Seitenhiebe problemlos. Ständig sehe ich auf mein Handy um zu schauen, ob Anne mir bereits geantwortet hat, und mit jedem Blick in mein leeres Postfach steigt meine Frustration. Ich schiebe sie der Kinder willen zur Seite, doch als ich meine nachmittäglichen Aufgaben erledige, schwillt sie wieder hoch wie die Lava in einem Vulkan. Das ganze endet darin, dass ich mit einem Paket, das definitiv zu groß für mich ist, vor dem Lehrerzimmer hinfalle und daraufhin einen Schreikrampf unterdrücken muss. Zwar verfalle ich nicht vollständig den Tränen, aber das Gerappel ist den Menschen im Nebenraum auch nicht verborgen geblieben. Die Tür fliegt auf und drei Kolleginnen kommen heraus, fragen, ob alles in Ordnung ist und ob sie mir helfen können. Innerhalb kürzester Zeit ist der letzte Rest meiner Tragerei erledigt. Mit jedem Wort, das sie sprechen, steigt mir das Wasser etwas höher in die Augen. Ich kann nicht unterscheiden, ob es daran liegt, dass meine Hormone verrückt spielen, dass ich den gesamten bisherigen Tag spürbar als Frau behandelt wurde, oder daran, dass ich mich soeben etwas blamiert habe. Immerhin letzteres haben die Kolleginnen aber sehr angenehm und verständnisvoll abgefangen. Wenn sie jetzt ein weiteres Mal nachfragen würden, was los wäre, würde ich wahrscheinlich weich werden und ihnen die gesamte Thematik mit dem nonbinary-Kram auftischen - doch ich tue es nicht. Noch immer bin ich unsicher.
Und dann reite ich mich in eine Gedankenspirale hinein. Was, wenn all das doch nicht richtig ist? Werde ich immer solche Schwierigkeiten im Job haben? Ich wusste zwar von Anfang an, dass das nicht leicht wird, aber lohnt es sich überhaupt, all das auf mich zu nehmen? Wofür mache ich das eigentlich? Als ich ein Kind und ein junger Teenager war, war ich immer stolz auf meine Weiblichkeit. Ich habe mich gerne herausgeputzt und mir vorgestellt, als Prinzessin in einem Märchenschloss zu leben. Das tun doch nur Mädchen, wurde mir immer gesagt, also wie komme ich darauf, kein Mädchen zu sein? Ist das nicht so, dass sich Anzeichen schon im frühen Kindesalter festsetzen? Was sagt mir also, dass das hier kein Hirngespinst ist, das ich irgendwie erfunden habe, um mich ein wenig abzuheben? Laste ich meiner Umwelt nicht zu viel damit auf, wenn ich sage, dass ich einen anderen Namen nutzen will? Muss ich vielleicht später, wenn es die Möglichkeit gibt, dasselbe auch noch mit den Pronomen machen? Überhaupt, Pronomen - Ich nutze die weiblichen, aber warum gerade die? Würde ich mit den männlichen Pronomen nicht meinem weiblichen Körper entgegenwirken, was ich ja so sehr will? Widerspreche ich mir da nicht? Warum sage ich immer noch, dass ich die Schwester von Charlotte bin und bin dann verwirrt, wenn sie sagt, dass das nicht stimmt? Warum kriegt sie das besser hin als ich? Sind das nicht alles Indizien dafür, dass ich mir hier eine riesige Lüge zusammenbaue? Will ich nicht eigentlich nur Aufmerksamkeit haben? Habe ich wirklich Körperdysphorie oder rede ich mir das bloß ein? Ich mache mir durch so ein Coming Out doch alles bloß viel zu schwer.
Die Gedanken verfolgen mich auf dem Heimweg. Ich versuche, sie mit lauter Musik und später mit einem Film zu verdrängen, was mir nur mäßig gelingt. Diese Sorgen sind existent, und obwohl ich weiß, dass sie zum Teil irrational sind, ist es von Zeit zu Zeit schwer, gegen sie anzukommen.
Am Abend erhalte ich endlich eine Antwort von Anne. Sie gibt mir Gewissheit - Ja, das, was ich hier tue, ist das Richtige. Irgendeinen Weg wird es schon geben, und egal, wie er aussehen mag, es ist mein Weg.
Hi Hayo!
Na, da muss ich auch mich auch erst umgewöhnen. Danke für deine Mail und ich freue mich über deine Offenheit, dass du mich diesbezüglich fragst.
Lass uns gerne dazu in Ruhe telefonieren, dann berate ich dazu und wir werden eine gute Lösung für dich finden.
Aktuell bin ich total krank und nicht auf der Arbeit, erst kommende Woche wieder. Ich melde mich bei dir sobald ich fitter bin, vielleicht schaffe ich das auch schon diese Woche.
Ist das ok für dich?
Bis dahin alles Gute, viel Spaß in der Schule!
LG Anne