Letztendes einige ich mich mit Clara darauf, dass ich mich vorerst nicht oute, es sei denn, es ergibt sich eine passende Situation.
Einige Tage später sitzen wir mit drei Schülern im Auto. In ein paar Wochen sollen die Jungs in ihr Praktikum starten, weswegen wir in verschiedene Betriebe fahren, um die Einsatzstellen abzuklären. Einer der Jungs hat einen türkischen Familienzweig und fühlt sich der Türkei generell sehr verbunden, was dazu führt, dass er desöfteren den Nachnamen seiner Mutter benutzt, um türkischer zu wirken. "Wenn ich achtzehn bin, werde ich mich auf jeden Fall umbenennen lassen", meint er.
"Das kostet aber", erwidert ein anderer Junge, "An die tausend Euro, habe ich mal gehört."
Clara stutzt. "Tausend Euro? Das halte ich eher für unrealistisch."
Nervös knabbere ich mir auf der Lippe herum. In den letzten Tagen habe ich mich öfter damit beschäftigt, und vor kurzem hatte ich auch eine hitzige Diskussion mit meiner Mutter darüber, ob ich meinen Namen ändern lassen soll oder nicht. "Das passt schon", pflichte ich dem Jungen leise bei. "So eine Namensänderung kann richtig ins Geld gehen."
"Du hast dich damit beschäftigt?", fragt Clara, was ich nickend bestätige.
"Einige Bekannte von mir haben ihre Namen geändert, was sich in jedem Fall recht schwierig gestaltet hat", berichte ich.
"Wie hießen die denn früher?", kommt die Frage vom dritten Jungen.
Ich drehe mich zu ihm nach hinten und antworte mit einer Gegenfrage. "Ist das wichtig? Sie haben ihre Namen geändert, also wollen sie wohl ihre alten Namen nicht mehr tragen."
"Willst du deinen Namen ändern?", fragt der Junge weiter.
Ein wenig pikiert davon, dass er mich mal wieder einfach so duzt, antworte ich wahrheitsgemäß: "Ja." Und urplötzlich merke ich, dass der Moment da ist, auf den ich seit dem Gespräch mit Clara gewartet habe.
"In was denn?", fragt der erste Junge.
"Hayo."
"Hayo!?" Der letzte sieht mich verstört an. "Warum das denn?" Er murmelt den Namen ein paar mal vor sich hin, wirkt aber absolut nicht zufrieden damit. Gerade erst hat er sich merken können, wie mein Geburtsname ist, und jetzt soll er sich umgewöhnen!? Es ist ihm deutlich anzumerken, dass ihm das sehr befremdlich vorkommt, genau so, wie es mir Clara bereits prophezeit hat.
"Gibt es einen bestimmten Grund dafür?", fragt der erste Junge wieder. Clara grinst mich gespannt an.
Für einen Moment bleibt die Welt um mich herum stehen. Das ist die perfekte Vorlage, es ist ruhig, die Jungs sind interessiert und fokussiert. "Ja, den gibt es", antworte ich, "aber das ist ein wenig kompliziert. Vielleicht erzähle ich das ein anderes Mal." Damit hat sich dieses Thema erledigt. Es geht wieder um den Jungen mit den türkischen Wurzeln, wo ich auch einen kleinen Beitrag zu leiste, aber es geht nicht mehr um mich. Das ist auch gut so.
Wie ich bereits erwähnte, muss ich in meinem Job Rücksicht auf die Kinder nehmen. Und obwohl die Frage interessiert und ehrlich gestellt war, sah ich an der gerunzelten Stirn des einen Jungen, dass er nicht damit zurecht gekommen wäre. Natürlich gibt es nie diesen perfekten Moment, den man sich immer erhofft, und auf eine solche Vorlage werde ich ewig warten müssen. Vielleicht hätte ich anders geantwortet, wenn wir nicht im Auto, sondern im Klassenraum oder auf dem Pausenhof gewesen wären. Irgendwo, wo es nicht so eng ist, wo es ein wenig stiller ist, wo er die Möglichkeit hat, schnell Abstand zu gewinnen. Denn ich kann mir sehr gut vorstellen, dass er den brauchen wird.
Direkt nach der Schule fahre ich mit Charlotte und Sophie zu einem Konzert von Panic! at the disco. Charlotte ist ein großer Fan der Musik, Sophie wurde mehr oder weniger eingeladen und ich habe das Auto. Natürlich mag auch ich die Musik und die Gesamterscheinung des Sängers Brendon, aber ich bin nicht ansatzweise so tief in der Materie wie Charlotte. Meine Textsicherheit beläuft sich ungefähr auf die Refrains der bekanntesten Songs.
Brendon kenne ich vor allem als sehr LGBT-positiven Menschen. Neben einer Menge zu Trinken und Essen packe ich also auch meine Pride-Flag ein, und auf dem Weg zur Schlange sehe ich, dass andere dieselbe Idee hatten. Neben der allseits bekannten Regenbogen-Flagge sehe ich auch noch einige Trans-Flaggen. Vor uns in der Schlange steht außerdem eine niedliche Person, die in eine Pan-Flagge gewickelt ist, was mich persönlich sehr kribbelig macht.
Im Allgemeinen entwickelt sich das Konzert zu einer kleinen Pride-Parade. Es sind so viele süße Menschen da, dass ich mich an diesem Abend gleich fünf Mal für ein paar Sekunden verliebe. Die gesamte Stimmung ist ausgelassen und freundlich, was ich bisher auch noch nie erlebt habe. Sophie und ich spielen spontan mit vier anderen jungen Leuten "Halt mal kurz", obwohl das Spiel nur auf maximal fünf Personen ausgelegt ist, es gibt kein unhöfliches Gedrängel und keine komischen Blicke, als ich mich meines Hoodies entledige, weil es doch ein wenig wärmer als gedacht ist.
Der Beginn der Show ist noch etwa eine halbe Stunde entfernt, als Sophie und ich uns zu Charlotte stellen, die selbst inzwischen zwei neue Gesichter bei sich hat. Sie sind Geschwister: Ein Mädchen in Charlottes Alter und ein junger Mann, der etwa ende zwanzig ist. Wir unterhalten uns ein wenig, blödeln rum, und wie es unsere Art ist, feinden Chalotte und ich uns spaßeshalber an.
"Ihr seid Schwestern, oder?", fragt irgendwann der Ältere der beiden.
War das so offensichtlich? Wie aus einem Munde antworten Charlotte und ich: "Nein."
Es entsteht eine kurze Verwirrung, und Charlotte erklärt: "Wir sind genauso Schwestern, wie ihr Schwestern seid."
"Wir sind Geschwister, aber keine Schwestern", füge ich hinzu.
Charlotte und ich versinken in unserem Kichern und Anschimpfungen, lassen die armen Zwei hilflos daneben stehen, bevor ich ruhiger erkläre: "Ich bin nonbinär. Deswegen sind wir keine Schwestern."
"Jetzt ergibt das Sinn", meint er, und damit hat es sich.
Als sich die Halle abdunkelt und Brendon auf wirklich spektakuläre Weise die Bühne betritt, ergreift selbst mich eine Art warme Euphorie. Mit jedem Takt zieht er die Menge ein wenig mehr in seinen Bann, und obwohl wirklich viele Menschen da sind, entsteht fast schon eine persönliche Athmosphäre. Immerhin ist Brendon eine wirklich bekannte Persönlichkeit, doch während viele andere vom Erfolg abheben, spürt man in jedem gesungenen Ton seine Freude und Dankbarkeit.
"Ich will, dass ihr eines wisst", sagt er völlig außer Atem auf englisch, "es ist völlig egal, ob ihr lesbisch, schwul oder trans seid. Es ist egal, wen ihr liebt oder welches Geschlecht ihr habt, ob ihr geoutet seid oder nicht. Euer Leben ist wervoll, und ich liebe euch. Ihr werdet geliebt, so wie ihr seid!" Dann hüllt er sich in eine Prideflag, das Lied "Girls/Girls/Boys" wird gespielt und die Halle erstrahlt im leidenschaftlichen Gegröhle der Menge und im regenbogenfarbenen Konfettiregen. Sogar ich kenne den Text dieses Liedes.