Nach zwei Seminarwochen und einer Woche Ferien ist es ungewohnt, wieder in die Schule zu gehen, wo ich einen BH trage und bei meinem Geburtsnamen gerufen werde. Clara ist für die nächsten Wochen krankgeschrieben, aber ausnahmsweise ist die Vertretung sehr angenehm geregelt: Die Schulsozialpädagogin Sara kann die Klasse übernehmen. In der zweiten Woche nach den Ferien sind die Schüler meiner Klasse ohnehin im Praktikum, und so kommt es, dass ich am Dienstag mit Sara im Auto sitze, um die Jungs in ihren verschiedenen Stellen zu besuchen.
Nachdem wir einige Arbeitsplätze besucht haben, fällt mir auf, dass ich noch ein wenig Zeit habe, um die erste tägliche Schatztruhe auf belletristica zu öffnen. "Belletristica ist eine Website, auf die man Texte hochladen kann", breche ich den Inhalt der Plattform herunter, während ich einen kleinen virtuellen Obsidian erhalte.
"Du schreibst also auch!", stellt Pandora erfreut fest. "Was denn?"
"Verschiedenes. Momentan arbeite ich ziemlich viel an einer Niederschrift zu meinem Coming out." (Textception!) Inzwischen ist es zu einem kleinen Ärgernis geworden, mich zu outen, aber es ist mittlerweile auch so selbstverständlich, dass ich mir in entspannten Situationen keine Gedanken mehr dazu mache.
Pandora wirkt interessiert. "Als was?" Ein leichtes Grinsen liegt auf ihren Lippen.
Ruckartig drehe ich mich zu ihr um. "Als nonbinär!", sage ich mit einer Stimme, die für meinen Geschmack etwas zu sehr ins Hohe rutscht.
Es entsteht keine unangenehme Stille. Keine Begriffserklärung ist notwendig, nicht einmal einen verdutzten Ausdruck kann ich auf Saras Gesicht erkennen. Stattdessen gibt sie einen wissenden Laut von sich. "Das erklärt einiges", schmunzelt sie und erzählt, dass sie über einige Ecken eine andere FSJlerin aus meiner Gruppe kennt, die ihr wiederum erzählt hat, dass ich nicht mehr Wiebke genannt werden will. Dieser Zufall bringt mich zum Lachen, mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. "Dir ist doch klar, dass ich jetzt einige Fragen an dich habe, oder?", schließt Sara.
"Sicher. Frag, so viel du willst. Das ist wichtig, finde ich. Nur so kann etwas wie Verständnis entstehen."
Sara steuert den Wagen in eine Seitenstraße, stellt ihn ab und fängt an, sich eine Zigarette zu drehen. Fasziniert betrachte ich ihre geschickten Finger, die kein Gramm des Tabaks zu Boden fallen lassen. Bei mir sieht so etwas hinterher immer aus wie ein halbes Massaker. "Woran merkst du das?", fragt sie nebenbei.
"Ich mag es nicht, als Frau bezeichnet zu werden", erkläre ich wie aus der Pistole geschossen, ohne ein Beispiel parat zu haben. "Allerdings weiß ich nicht, ob ich dieses Gefühl auch schon vor tausend Jahren gehabt hätte, oder ob es eher an dem aktuellen Frauenbild liegt, mit dem ich mich nicht identifizieren kann."
Inzwischen sind wir ausgestiegen und Sara hat ihre Zigarette angezündet. "Im Kindergarten war ich nur mit Jungs befreundet", erzählt sie, "wodurch ich einige Verhaltensweisen übernommen habe. Deswegen fühle ich mich nicht weniger weiblich."
Ich zucke mit den Schultern. "Ich finde es nunmal furchtbar, angesehen zu werden und zu merken, dass nur Hüften und Brüste gesehen werden. Darauf will ich nicht runtergebrochen werden, so blöd das auch klingt. Ich denke mal, dass da ungefähr der Unterschied liegt."
"Also ist das bei dir auch etwas körperliches", schließt sie.
"Ich fühle mich wohler, wenn ich meine Brüste abgebunden habe, ja."
Auf der Weiterfahrt reden wir über Saras Erfahrungen, ihre Abwehrmechanismen und wie sie irgendwann sich und ihre Weiblichkeit akzeptieren gelernt hat. "Willst du das auch in der Schule öffentlich machen?", fragt sie nach einer Weile.
"Das überlege ich schon seit Januar", lache ich, "aber ja, eigentlich schon. Allerdings habe ich die Sorge, dass es die Jungs zu sehr überfordert."
"Das glaube ich eher nicht", wirft Sara ein. "Viel eher wird es ihnen egal sein. Sorgen würde ich mir bei dem Kollegium machen."
"Warum?" An das Kollegium habe ich bisher gar nicht gedacht.
Sara zieht scharf die Luft ein. "Weil wir einige Leute da sitzen haben, die sehr konservativ sind. Ich denke oft, dass sie sehr festgefahrene Meinungen haben und dabei ziemlich wertend sind. Wenn du irgendwo mit Gegenwind rechnen musst, dann dort."
Darauf fällt mir keine Antwort ein. Vollkommen baff stammele ich irgendetwas vor mich hin in dem kläglichen Versuch, gefasst zu wirken.
"Alles gut", schmunzelt die Sozialpädagogin und auf meine Nachfrage hin fügt sie hinzu: "Ich kann mir gut vorstellen, dass einige dich nicht ernst nehmen und einige auch infrage stellen, warum du das den Jungs sagen musst. Vielleicht ist man aber auch gnädiger mit dir, weil du nur ein FSJ machst und sie genau wie du im Kopf haben, dass du noch zwei Monate da bist."
Ich nicke langsam. "Danke, dass du mir das sagst."
Eine Woche später oute ich mich bei einer anderen Kollegin.
"Hat es einen Grund, weshalb du selbst keine Kinder gebären willst?", fragt sie mich auf der Heimfahrt, nachdem ich ausdrücklich die Freuden der Geburt für mich abgelehnt habe.
"Ja", sage ich simpel. Sie sieht mich mitleidig an, also füge ich hinzu: "Das ist nichts schlimmes, ich weiß nur nicht, wie du reagierst, wenn ich das ausspreche." Immerhin ist sie eine sehr gläubige, aber auch eine äußerst gutherzige Person. Jemand, der in einer Welt aufgewachsen ist, die sich grundlegend von der heutigen unterscheidet. Doch auch jemand, der die heutige Welt so annimmt, wie sie ist, ohne grundsätzlich alles zu verteufeln. Also fasse ich mir mein wild klopfendes Herz und erkläre: "Ich fühle mich nicht als Frau. Auch nicht als Mann. Ich fühle mich als gar nichts."
In dieser Situation fühlt es sich seltsamerweise nicht richtig an, die Worte auszusprechen, obwohl auch sie sehr lieb und verständnisvoll reagiert. Vielleicht liegt es daran, dass ich müde bin, vielleicht auch daran, dass ich gleich aussteigen werde und wir das Thema nicht bis ins Detail besprechen können (was ich heute auch nicht will), vielleicht bereuhe ich auch die unsensibel gewählten Worte, die ich zuvor verwendet habe. Auf jeden Fall frage ich mich auf den letzten Metern, ob mein kleines Geheimnis noch lange eins bleiben wird.