Es ist nun etwa zwei Monate her, dass ich zu Hause am Tisch saß und stammelnd sagte, dass ich nonbinary bin. Ohne etablierte Geschlechtsidentität. Seit zwei Monaten geben sich die Menschen in meiner Umgebung Mühe, mich bei meinem Namen zu nennen, und jeden Tag merke ich, wie das ein bisschen mehr gelingt. Manchmal bin ich überwältigt davon, wie verständnisvoll mein soziales Umfeld mit einem solch abstrakten Thema umgeht, und sehr häufig spüre ich eine tiefe Dankbarkeit dafür. Eines habe ich in den letzten zwei Monaten besonders gemerkt: Ich habe ein unglaubliches Glück.
Ich erinnere mich an Olivia - Eine lesbische Freundin, mit der ich auf James' Geburtstagsfeier sprach. Sie wuchs in einem homophoben Elternhaus auf, wo sie so erzogen wurde, dass sie glaubte, Homosexualität sei etwas schlechtes. Dann merkte sie, dass sie selbst Frauen wesentlich attraktiver fand als Männer. Ich weiß nicht, was in ihr vorging, aber es muss furchtbarer gewesen sein, als ich mir vorstellen kann.
Ihr erstes coming out hatte sie mit sechszehn in einer trunkenen Nacht. Es war ein lauer Sommerabend, an dem wir uns relativ spontan in einer kleinen Gruppe zusammenfanden. Wir saßen im Garten, tranken Bier, Wein und ein paar hochprozentige Sachen, sinnierten am Feuer und genossen den Moment. Zumindest tat ich das, für ein paar Minuten war einfach alles perfekt. Irgendwann bin ich nach drinnen gegangen, ich weiß nicht mehr warum, auf jeden Fall saß ich auf der Treppe, als Olivia zu mir kam und sich ein paar Stufen unter mir hinsetzte.
"Ich glaube, ich mag eher Frauen", sagte sie irgendwann.
Weil ich selbst ein wenig betrunken war, drangen die Worte nur langsam zu mir durch, doch irgendwie merkte ich, dass es doch ein wenig erst wahr. "Danke, dass du mir das sagst", meinte ich also. "Das bedeutet mir viel." Das tat es auch, besonders, weil Olivia damals nicht sonderlich viel von sich preisgab. Zwar kannte ich einige ihrer Hobbys, doch es fiel mir schwer zu erahnen, was sie wirklich beschäftigte. Und jetzt saß sie hier vor mir und gestand mir, dass sie lesbisch ist.
Olivia zuckte mit den Schultern. "Ich kann das gerade auch nur, weil ich stockbesoffen bin", lachte sie.
Ich musste ebenfalls lachen. "Dann wünsche ich dir, dass du das bald auch ohne Alkohol sagen kannst."
Später erzählte Olivia mir, dass sie diesen Satz unglaublich niedlich fand. Mir aber wurde an diesem Abend eines klar: Wenn Olivia so viel Alkohol braucht, um auszusprechen, was ein grundliegender Teil ihrer Identität ist, dann muss es im nüchternen Zustand unerträglich sein. Doch immerhin ist sie seit ihrem coming out offener mit ihrer Sexualität, was bedeutet, dass wir ab und an darüber diskutieren können, ob Emilia Clarke oder Emma Watson attraktiver ist. Oder dass sie von dem süßen Mädel erzählt, das ihr im Bus gegenüber saß.
Ich kann mir gut vorstellen, dass sie einen Platz gesucht hat, an den sie gehört. Ihre Eltern haben ihr eingebläut, dass das, was sie fühlt, nicht richtig ist, und mit diesem Gefühl musste sie in die Welt hinaus gehen. Sie fühlte sich an jeder Stelle zu jeder Zeit falsch und hat versucht, diese Gefühle zu unterdrücken - Erfolglos. Natürlich. Mit ihrem Coming Out hat sie sich sozusagen selbst einen Platz gegeben. Seitdem wirkt sie, als wäre eine Last von ihr abgefallen.
Obwohl sie inzwischen in einer WG wohnt und ihre Sexualität dort offen ausleben kann, hat sie sich bei ihren Eltern noch nicht geoutet. Und das wird sie auch nicht tun, zumindest nicht freiwillig. Sie meint, dass sie nicht richtig reagieren können: "Wenn meine Eltern mich dafür hassen, ist es natürlich scheiße für mich, das muss ich nicht weiter erklären. Und wenn sie gut damit umgehen können, bedeutet das, dass ich mich die ganzen Jahre über umsonst fertig gemacht habe."
Auch James hatte es bei seinem Coming Out als Trans-Mann nicht einfach. Er lebte zu der Zeit aus verschiedenen Gründen bei einer Pflegefamilie und bekam Sprüche zu hören wie "Du weißt schon, dass du kein Junge sein musst, um Mädchen zu mögen?" oder den Klassiker "Das ist nur eine Phase". Seine Pflegemutter nannte ihn immerzu bei seinem Geburtsnamen, während er selbst noch nicht genau wusste, wie er heißen will. Ich selbst war vielleicht auch nicht die größte Hilfe. Ich dachte, es wäre schön für ihn, wenn er auf unsere Schule kommt und alle schon von seinem Namen und den dazugehörigen Pronomen wissen. Also streute ich diese Informationen mehr oder weniger bewusst in Gespräche ein - Immerhin war das auch für mich eine Umstellung, und ich wollte mich möglichst schnell daran gewöhnen. Doch jetzt weiß ich, dass ich ihm damit auch ein großes Stück Selbstbestimmung genommen habe. Ich weiß nicht, ob er mir böse deswegen ist, er hat nur ein einziges mal eine leichte Unzufriedenheit angedeutet, aber wir haben das Thema nicht vertieft. Als er schließlich wieder in sein Familienhaus zog und auch wieder unsere Schule besuchte, gab es viele Fragen, die mit nahezu jedem außer James besprochen wurden. Er schien locker damit umzugehen, doch auch dieses Getuschel schien ihn zu nerven. Er hätte gerne diese ganzen Fragen beantwortet, wenn man sie ihm nur direkt gestellt hätte. (Einer der Lehrer nannte James übrigrigens bis zu seinem Schulabschluss bei seinem Geburtsnamen.)
Heute zupft sich James stolz an dem Flaum, der sich an seinem Kinn gebildet hat, und trägt Hoodies, in denen sein Busen vollkommen verschwindet. Er wirkt wesentlich zufriedener auf mich als damals, als ich ihn als Mädchen kennenlernte.