Meine Schwester hat dieses Jahr an einem Montag Geburtstag. Das ganze Thema meines Outings ist für mich ein bisschen in den Hintergrund gerückt, weil es zu Hause ein wenig selbstverständlicher geworden ist und ich mich nicht nur mit meinem Geschlecht beschäftige. Doch an diesem Nachmittag lässt mein Vater in einem Nebensatz fallen, dass meine Großeltern zu Besuch kommen werden. Das ist eine recht spontane Entscheidung, da der Plan eigentlich vorsah, dass niemand kommen wird. Später wird sich Charlotte noch darüber beschweren, dass sie sich sooo viel für den Tag vorgenommen hatte. Ich zitiere: "Wie könnt ihr es nur wagen, zu meinem Geburtstag zu kommen!" Das bedeutet übersetzt, dass sie sich sehr über den Besuch freut.
Ich hingegen sehe auch eine Chance darin, mich zu outen. Die ganze Zeit, während wir am Tisch sitzen und Kuchen essen, von dem ich keinen Bissen herunterkriege, hampele ich nervös auf meinem Stuhl herum und warte auf einen geeigneten Moment, das mir so wichtige Thema anzusprechen. Dabei fällt mir wieder ein, was mir meine Mutter an Onkel Richards Geburtstag geraten hat: "Es ist sein Tag, nicht deiner." Genauso ist das auch bei Charlotte. Ich muss sie fragen, ob ich die Aufmerksamkeit und das Interesse ihrer Gäste für mich beanspruchen darf.
Ich weiß nicht, ob das bei anderen Geschwistern auch so ist, aber Charlotte und ich verfügen über eine stillschweigende Kommunikation. Ich beschreibe uns gerne als "seelische siamesische Zwillinge", weil wir immer sehr genau wissen, was die andere meint.
Ich sehe sie also an und forme mit meinen Lippen die Frage: "Darf ich?"
"Was?", formt sie zurück.
"Mich outen", antworte ich und komme mir schon wieder albern vor.
Sie wirkt kurz unschlüssig, nickt aber dann. Das gibt mir ein wenig mehr Freiraum, und für den Moment mischt sich Glück zu der Aufregung.
Nach dem Kuchenessen räumen wir die Teller weg und ich frage Charlotte, ob ich sie auch richtig verstanden habe. Ein witziger Moment, ich liebe diese kleinen Bestätigungen. Jetzt wird es ernst.
Zum Abendessen gibt es eine aufwändige Lauchcremesuppe, die mein Vater einen Tag zuvor vorbereitet hat und nun noch einmal aufkocht. Charlotte hat sie sich gewünscht und es ist jedes Mal ein kleines Fest, sie zu essen. Ich lasse mir von Opa eine halbe Schüssel einschenken und nehme mir eine kleine Scheibe Brot dazu. Die Aufregung verdreht mir den Magen. Meine Großeltern sind eine etwas andere Nummer als meine Eltern. Sie haben meine gesamte Entwicklung nur am Rande mitbekommen, da ich sie nur relativ selten sehe. Aber immerhin oft genug, um ihnen das folgende mitteilen zu wollen.
"Also, wenn ich eure Aufmerksamkeit mal auf etwas ganz anderes lenken darf", beginne ich, "ich habe euch etwas zu sagen." Ich sehe nicht in ihre Gesichter, sondern über die gegenüberliegende Ecke des Tisches hinweg. "Und zwar bin ich Nonbinary. Das bedeutet, dass ich mich weder männlich noch weiblich fühle."
Sowohl mein Opa als auch meine Oma sind verwirrt. "Aber du bist doch eine Frau", sagt meine Oma.
Ich spüre Glut in meinen Wangen aufsteigen. "Eben nicht", korrigiere ich sie. "Also, körperlich schon, aber ich fühle mich nicht so." Ich beginne zu erklären, wo der Unterschied zwischen sozialem und körperlichem Geschlecht liegt und warum man das nicht immer gleichsetzen kann. "Ich erwarte nicht, dass ihr das versteht", sage ich immer wieder, "nur, dass ihr es akzeptiert."
Ich strauchele in meinen Sätzen hin und her, fühle mich hilflos, weil es schwierig ist, etwas so unsichtbares zu für Menschen zu erklären, die über siebzig Jahre alles in Männlein und Weiblein unterteilt haben und nie mit etwas anderem in Berührung gekommen sind. Mama und Charlotte schreiten mir in manchen Sachen zur Hilfe, überlassen mir aber den Hauptpart. Wieder bin ich dankbar für ihre Unterstützung.
"Aber was soll ich denn beim Kaffekranz sagen", überlegt Oma weiter, "Meine Enkelin hat kein Geschlecht?"
Langsam werde ich ungeduldig. Mir ist heiß von Wut und Aufregung und Unsicherheit. "Was sagst du denn sonst zu ihnen, 'meine Enkelin hat eine Muschi'?", schießt es aus mir heraus. Mir ist noch in dem Moment bewusst, dass das nicht so freundlich klingt, wie es gemeint sein sollte, aber ich habe einen Punkt klarzumachen.
"Nee", gibt Oma verdattert zurück und lehnt sich mit einem konzentrierten Seufzen in den Stuhl.
"Ich verstehe das nicht", meldet sich nun auch Opa zu Wort, der bisher die meiste Zeit über geschwiegen hatte. "Du bist doch ein gesundes Mädchen, hast zwei gute Eltern, eine Mama, einen Papa-"
"Ich bin auch nicht krank", unterbreche ich ihn. Allein der Gedanke, dass Opa mich wegen meiner Identität für krank halten könnte, macht mich traurig. "So etwas sucht man sich nicht aus. Es ist einfach da. Meinst du, Transfrauen finden es als Kind toll, beschimpft zu werden, weil sie gerne Kleider anziehen oder mit Puppen spielen? Das ist kein Spaß, Opa. Niemand macht das freiwillig. Man weiß nicht, warum es das gibt, aber es ist da, und ich möchte, dass ihr diese Seite von mir kennt und akzeptiert." Ich rede mich in Rage. "Ich fände es komisch, euch das verheimlichen zu müssen, weil ihr mir verdammt wichtig seid."
Opa brummt einmal und holt seinen Notizblock raus. Zusammen mit einem Stift schiebt er ihn mir rüber. "Schreib das mal auf", sagt er. Dieser Bitte komme ich gerne nach und notiere "Non-Binary / Enby / Non-Binär" auf dem Papier. Das ist ein gutes Zeichen, denke ich mir dabei.
"Also, für mich wirst du immer meine Enkelin bleiben", gibt meine Oma wieder von sich.
"Das hoffe ich doch auch", lächele ich. Es wäre wirklich dramatisch für mich, wenn Oma mich nicht mehr als Enkelin betrachten würde. "Ich bin deine Enkelin, aber keine Frau." Das verwirrt sie schon wieder, aber sie geht nicht weiter darauf ein.
Eine Ungewissheit liegt in der Luft. Es ist dasselbe Gefühl, das ich auch schon bei meiner Familie und Sophie gespürt habe, nur noch viel kräftiger. Eine drückende Stille, in der ich nicht einschätzen kann, wie meine Großeltern über das Gesagte, oder viel eher über mich, denken. Dieses Unwissen belastet mich, doch ich lasse mir nichts anmerken.
Kurze Zeit später verabschieden sie sich. Ich umarme beide und während wir darauf warten, dass Opa das Auto wendet, scherze ich mit Oma über ihren kleinen Zopf, den ich über alle Maßen toll finde, und darüber, dass sie mich als Kind immer frisieren wollte, was ich hingegen gar nicht so toll fand.
"Wiebke, kann ich noch kurz mit dir sprechen?", fragt Mama mich, sobald die Haustür ins Schloss gefallen ist. Ihre Stimme klingt freundlich, aber ernst, und sofort frage ich mich, ob ich etwas falsch gemacht habe.
"Sicher", antworte ich. Wir setzen uns wieder an den Küchentisch, ich gegenüber von Mama und Papa. "Was gibts? Was habe ich verbrochen?"
"Eigentlich gar nichts", schmunzelt Mama. "Du hast bei deinem Outing immer wieder gesagt, dass du erwartest, dass Oma und Opa dich so akzeptieren."
Mir wird sofort klar, was sie meint. "Ich hätte besser sagen sollen, dass ich mir das wünsche."
"Genau. Wenn du sagst, dass du etwas erwartest, baust du Druck auf. Dass du Nonbinary bist, überfordert beide, damit müssen sie erst einmal zurecht kommen. Wenn du dann noch sagst, dass du erwartest, dass sie das einfach so hinnehmen, machst du die Sache schlimmer als sie ist."
Ich nicke mit gerunzelter Stirn. "Ich war auch ziemlich aufgeregt", verteidige ich mich. "Aber ich verstehe, was du meinst. Danke, ich achte darauf."
"Das wars auch schon", flötet Mama. "Achso, und hast du mit Charlotte abgesprochen, dass du das machst?"
"Jaja, natürlich", antworte ich. Niemals würde ich meiner Schwester den Tag wegnehmen wollen, an dem es ganz offiziell nur um sie gehen soll.
Zum Schluss möchte ich gerne noch anmerken, dass ich meinem Vater nichts übel nehme. Er hat sich in dem Gespräch mit meinen Großeltern zum größten Teil rausgehalten und mich nicht so unterstützt, wie es Mama und Charlotte getan haben. Das liegt einerseits an seiner Art; Er ist generell ein recht stiller und nachdenklicher Mensch. Andererseits versteht er selbst nicht ganz, was mit mir los ist. Und ich finde das in Ordnung. Er hört mir zu, verurteilt mich nicht, und genau das ist es, was ich meine, wenn ich sage: "Du musst es nicht verstehen, aber bitte akzeptieren." Er respektiert mich in erster Linie, wie ich bin, braucht aber auch Zeit, um zu lernen, damit umzugehen. Für mich ist es einfach, ich lebe schon seit über drei Jahren damit. Er kennt es erst seit drei Wochen. Dass Papa noch Zeit braucht, um sich an mich als Hayo zu gewöhnen, ist genauso okay wie die Tatsache, dass ich mich am Telefon immer noch mit Wiebke melde.