Am Abend fühle ich mich miserabel. Ich kann nicht genau zuordnen, woran das liegt, immerhin habe ich immer noch meine Tage. Andererseits habe ich wieder einen ganzen Tag voller Falschzuordnungen hinter mir, nach dem meine Weiblichkeitskompetenz restlos aufgebraucht ist. In jedem Fall habe ich wieder dieses altbekannte Gefühl, in ein dunkles Loch zu fallen, aus dem ich nie wieder rauskommen werde. Inzwischen weiß ich zum Glück, wie ich mit dieser Gefühlslage umgehen sollte, und ich habe ganz wundervolle Menschen, auf deren Unterstützung ich zählen kann.
Im Bett liegend schreibe ich also Hannah, ob sie nicht diese Woche mal Zeit für mich hat. Ich weiß ganz genau, dass sie momentan sehr beschäftigt ist, und dass ich diese Frage nur stelle, um später eine Entschuldigung zu haben, mich einsam zu fühlen. Sie hat tatsächlich keine Zeit, aber statt darüber zu wehklagen, entscheide ich mich dazu, Sophieanzuschreiben.
"Schatz", tippe ich, "bitte sag mir, dass du noch wach bist." Wahrscheinlich würde ich auch alleine einschlafen können, aber das wäre ein unruhiger Schlaf.
"Bin ich", kommt es nur Sekunden später von ihr zurück, "Was gibts?"
Was für ein Glück, sie schläft noch nicht. "Ich habe ein Tief", schreibe ich und füge hinzu: "Vielleicht sind das nur die Hormone von der Periode. Oder der Stress."
"Hast du noch Therapie? Hast du genug Minzeis gegessen? Willst du vorbei kommen?"
An der Stelle mit dem Minzeis muss ich schmunzeln. Tatsächlich habe ich heute noch kein Minzeis gegessen, aber ich habe auch gar keine Lust dazu. "Die nächste Therapiesitzung ist erst im Juni", antworte ich, "und ich trage schon meinen Pyjama. Aber danke."
"Warte kurz", schreibt sie mir sofort. Ich warte.
Zehn Minuten später klingelt es an der Haustür. Widerwillig ziehe ich mir eine Hose an und trotte nach unten, wo ich die Tür öffne."Ich habe Kekse dabei", sagt Sophie und hält eine Schachtel hoch.
Wir machen es uns auf dem Sofa bequem und trinken Tee. Sophie sieht aus, als wäre sie selbst gerade aus dem Bett gefallen: Die Haare sind zu einem zerzausten Knoten zusammengebunden und sie trägt einen weiten Hoodie, der zugegebenermaßen ein wenig müffelt. Wahrscheinlich hat sie genau wie ich das nächste genommen, was auf dem Boden lag, bevor sie hierher gefahren ist. Fairerweise sehe ich selbst furchtbar aus, aber all das ist jetzt egal. Wichtig ist nur, dass sie hier ist.
"Hast du dich schon entschieden, was du wegen dem FSJ unternimmst?", fragt sie, nippt kaum merklich an ihrem Tee und nimmt die Tasse wieder herunter. "Diese Frage ist zu so einem Stressfaktor für dich geworden..."
Damit trifft Sophie den Nagel auf dem Kopf. Es ist tatsächlich ein Stressfaktor geworden und ich merke selbst immer deutlicher, dass ich an der Stelle etwas tun muss.
"Ich telefoniere diese oder nächste Woche mit meiner Ansprechpartnerin Anne. Dann wird eine Entscheidung gefällt", meine ich. Das braun gefärbte Wasser in meiner Tasse schwappt bedrohlich hoch.
"Die Frage ist, wenn sie dir rät, dich nicht zu outen, geht es dir dann schlechter? Du sagtest, du willst nicht egoistisch sein und den Kindern diese Verwirrung zumuten, aber im Endeffekt musst du auch an dich denken: Kommst du damit klar, bis zum Ende des FSJ mit Wiebke oder Frau angeredet zu werden?" Nachdenklich rührt Sophie einen kleinen Brocken Kandiszucker in den Tee ein, der definitiv noch viel zu heiß zum Trinken ist.
"Irgendwie komme ich bestimmt damit klar, was nicht heißt, dass es mir gefällt. Alles, was ich momentan tun kann ist, mich selbst nicht als Frau zu benennen und die Jungs anzumaulen, wenn sie es tun, aber das versteht wieder keiner. Ist aber auch kein großes Thema", meine ich und füge hinzu: "Anne hat es gut aufgenommen. Ich denke, dass sie objektiv bleibt." Damit meine ich, dass ich darauf hoffe, dass sie mich dazu ermutigt, mich zu outen. Natürlich.
"Ich mache mir nur Sorgen." Sophie runzelt die Stirn. "Immerhin weiß ich ja, wie glücklich es dich macht, mit Hayo betitelt zu werden, und dass du es hasst, als Frau bezeichnet zu werden. Ich denke, das könnte einer der Dinge sein, die dich so herunterziehen."
Ich nicke langsam. "Das kann ich mir vorstellen."
"Es ist natürlich deine Entscheidung, aber ich rate dir stark, an dieser Stelle egoistisch zu sein", fügt sie hinzu.
"Werde ich früher oder später wohl auch tun", überlege ich laut. "Es wird mir aber schwer fallen, immerhin bin ich dort allein. Ich habe weder dich noch Charlotte noch sonst jemanden, der mich auffangen kann, wenn ich mich verhaspele oder sonst was passiert."
Keck sieht sie mich über die Tasse, aus der sie gerade einen vorsichtigen Schluck nimmt, an. "Du schaffst das auch ohne uns", behauptet sie bestimmt, indem sie die Tasse herunternimmt. "Wir wissen beide, dass du die Rede mittlerweile auswendig kannst, und du erklärst perfekt, was nonbinary ist. Denk immer daran: Du bist Hayo!" Die letzten Worte ruft sie so enthusiastisch, dass ich nicht anders kann, als zu lächeln.
"Ich bin Hayo", bestätige ich leise. Das Grinsen will kaum noch aus meinem Gesicht.
Irgendwie lenkt sich das Thema wieder auf die Beatles, Wale, Freddy Mercury und Harry Potter. Es ist alles gesagt, was gesagt werden musste, und ich fühle mich wieder wohl in meiner Haut.
Am nächsten Tag frage ich die Lehrerin der Klasse, die ich begleite, ob sie nach der Schule noch ein wenig Zeit hat. Sie bejaht, und so sitzen wir am frühen Nachmittag zu zweit in dem sonst leeren Klassenzimmer. Ich bin aufgeregt, das Herz schlägt mir schon wieder spürbar in der Brust.
"Ich weiß nicht, wie ich das am besten sagen soll", beginne ich. "Es hat mit der LGBT-Szene zu tun."
"Der was?", fragt Clara, die auf einem Stuhl mir gegenüber sitzt.
"Der LGBT-Szene", wiederhole ich. "Das steht für Lesbian, Gay, Bi, Trans." Dabei fuchtele ich hilflos mit den Händen in der Luft rum, doch sie versteht. "Ich identifiziere mich als nonbinary, also geschlechtslos. Vor zwei Monaten habe ich mich das erste Mal wirklich geoutet, und jetzt bin ich an einem Punkt, an dem ich mich frage, inwieweit ich das hier in die Schule tragen kann."
Clara nickt mit einer Mischung aus Neugierde und Interesse. Sie braucht einen Moment, bevor sie antwortet. "Ich kann dir jetzt schon sagen, dass das die Jungs sehr verunsichern wird. Du wirst mit vielen Fragen rechnen müssen, wenn du das tust, und vielleicht auch Ablehnung. Als wir hier über Transsexualität gesprochen haben, und ich gemeint habe, dass ich betroffen sein könnte, war der Aufschrei schließlich auch groß, und das war nur im Spaß." Einen Augenblick lang schweigt sie, bevor sie hinzufügt: "Andererseits kann ich auch nicht sagen, ob sie sich anders verhalten, wenn sie wirklich jemanden kennen, der so ist."
"Genau das ist meine Überlegung", meine ich. "Der Umgang mit der gesamten Thematik wäre ein anderer für sie, wenn sie direkten Kontakt zu jemandem hätten."
Clara reibt sich nachdenklich das Kinn. "Woran merkst du denn, dass du nonbinär bist?"
"Schwer zu sagen", antworte ich, obwohl ich mir in der Zwischenzeit natürlich schon öfter Gedanken dazu gemacht habe. "Ich mag es einfach absolut nicht, als Frau bezeichnet zu werden. Mit allen Klischees einer Frau kann ich überhaupt nichts anfangen. Ich weiß, dass das alles sehr überholt ist, und natürlich können Frauen auch anders sein, aber auch dann ... Das bin nicht ich. Wenn ich etwas tue, was klischeehafterweise Frauen tun, tue ich das nicht, weil ich eine Frau bin, sondern weil ich es tun will. Es ist ist schwer zu erklären. Ich meine, woran merkst du denn, dass du eine Frau bist - wenn ich das mal so unterstellen darf?"
Clara überlegt. "Ehrlich gesagt erfülle ich ziemlich viele Klischees", gibt sie zu. "Ich weiß es nicht, ich habe mir nie so viele Gedanken darum gemacht." Als nächstes sieht sie mich ernst und direkt an. "An deiner Stelle würde ich es für mich behalten."