„Heute möchte ich gerne etwas mit euch zum Thema Geschlechterklischees machen“, erkläre ich mit einem Blick in die Klasse. Es passiert wirklich. Gegenüber von mir sitzt direkt neben einem Schüler Clara, die mir ermutigend zunickt. Sara ist ebenfalls da; sie sitzt nicht unweit von mir in einer Ecke des Raumes. Ich verzettele mich ein wenig in meinen Worten, also klappe ich kurzerhand die Tafel auf. „Ich habe da mal was vorbereitet.“
In der Mitte der Tafel hängen mehrere Wörter, flankiert von dem blau gemalten Wort „männlich“ und „weiblich“ in rot. „Eure Aufgabe ist es zunächst, diese Worte aufzuteilen.“ Mir ist wohl bewusst, dass ich damit zunächst ein sexistisches Bild fördere. Allerdings habe ich die Wörter so gewählt, dass die Jungs selbst einige Klischees brechen sollten.
„Autos kommt zu männlich!“, ruft Kevin in die Klasse. „Technik auch, weil wir ja wissen, wie das funktioniert.“
„Mit melden wäre das super gewesen“, kommentiere ich und hänge die Kärtchen nach links.
Über einige Unruhen hinweg und noch mehr Anordnungen von Clara und Sara , die Jungs sollen doch gefälligst mal ruhig sein, werden bald weitere Zettelchen zugeordnet.
Bis Hugo sich meldet und nachdenklich sagt: „Familie gehört zu beidem.“
„Nein, zu weiblich!“, schießt sofort Miles neben ihm hinterher.
Hugo wendet sich zu ihm um. „Warum, haben Männer etwa keine Familie oder was?“
Darauf fällt Miles nichts richtiges es. Er stammelt ein wenig.
Interessant. Genau darauf habe ich gepokert, obgleich ich den Ansatz erst später vermutet hätte. „Ich hänge das Wort mal in die Mitte“, unterbreche ich den kleinen Wortwechsel. Noch will ich mein Thema nicht anschneiden, dafür sind mir zu wenig Wörter sortiert. Es ist zu früh.
Alex meldet sich. „Mode kommt zu weiblich“, sagt er.
Ich hänge das Kärtchen um. „Interessierst du dich nicht für Mode?“, frage ich den Jungen, der immer Markenklamotten trägt und merkbar auf sein Aussehen achtet.
„Hä?“
„Naja, ich schätze dich als einen sehr modischen Menschen ein. Stimmt das nicht?“
„Doch“, bestätigt er mich.
„Warum sagst du dann, dass Mode Frauensache ist?“
Alex druckst ein wenig herum, bis er undeutlich sagt: „Naja, weil es ja so ist, dass Mädchen sich schon mehr dafür interessieren... oder so.“
Schmunzelnd nicke ich ihm zu. „Wir machen mal weiter, okay?“
Als nächstes meldet sich Felix, der schon die ganze Zeit unruhig auf seinem Stuhl hin und her wibbelt. Es ist generell schwierig, ihn einigermaßen ruhig zu halten, insofern stören mich seine Laute nur wenig. „Haare kommt zu beiden“, meint er in einer verstellten Stimme. „Jungs haben ja Haare. Und Mädchen auch“, erklärt er auf einen unverständlichen Kommentar hin.
„Essen kommt zu männlich“, meint Kevin, nachdem ich ihn drangenommen habe.
Ich muss leise lachen. „Warum?“
„Ja, keine Ahnung“, braust er auf, „Miles ist so der einzige in der Klasse, der immer isst!“
Schmunzelnd hänge ich das Kärtchen etwas tiefer unter die anderen unter der blauen Schrift. „Wir reden nachher nochmal darüber, ja?“
„Was heißt orange?“, fragt Alex.
„Orange ist eine Farbe“, antworte ich.
Verwirrt meint er: „Das ist eine Farbe. Dann kommt das in die Mitte. Warum sollte eine Farbe ein Geschlecht haben?“
Stolz durchflutet mich. „Ist das mit blau und rosa auch so? Können Jungs auch rosa tragen?“
„Sicher“, meint er. „Hugo trägt gerade lila.“
Ist mir nicht aufgefallen. „Sehr gut“, sage ich und hänge die drei Farben zu den anderen Begriffen in der Mitte.
„Eigentlich können wir alle Wörter in die Mitte hängen“, meint Hugo nachdenklich.
Überrascht sehe ich ihn an. „Genau“, sage ich, „Das ist der Punkt. Genau darauf wollte ich hinaus.“ Mit gelber Kreide schreibe ich den Begriff divers unter die Wörter, die in der Mitte hängen, und gehe dann vor das Pult. „Am Anfang dieses Jahres wurde das dritte Geschlecht in Deutschland eingeführt“, erkläre ich. Es ist schon wieder unruhig geworden, und es braucht einige Ermahnungen seitens der Lehrer, damit ich in Ruhe erklären kann, was das überhaupt ist. „Es gibt Männer, das wisst ihr, und es gibt Frauen, das wisst ihr auch schon“, beginne ich. „Aber es gibt auch Menschen, die beides sind.“
„Transen!“, ruft Miles.
„Nicht ganz“, antworte ich auf den unhöflichen Beitrag. „Diese Menschen wurden mit beiden Geschlechtsmerkmalen geboren.“
Alex versteht es nicht. „Wie jetzt... Heißt das, sie haben --- und ---?“ Statt die Worte auszusprechen, macht er mit fuchtelnden Bewegungen Andeutungen.
„Möglich, ja“, antworte ich. „Ihr benutzt oft spaßeshalber das Wort Transe. Wisst ihr denn auch, was das bedeutet?“
Alex meldet sich wieder. „Das sind Männer, die sich zur Frau operieren lassen, oder Frauen, die sich zu Männern operieren“, wiederholt er das Wissen aus dem Sexualkundeunterricht.
„Fast“, korrigiere ich ihn. „Transsexuell sind Menschen, die als das eine Geschlecht geboren worden sind, sich aber als das andere fühlen. Die Operationen können später dazu kommen, sind aber nicht nötig, um Trans zu sein.“ Kurz ist es still, also fahre ich fort. „Wir haben drei Geschlechtsgruppen: männlich, wie ihr es seid, weiblich, das sind eure Lehrerinnen, und divers. Das bin ich.“
Kevin schreit auf und weicht auf seinem Stuhl so weit zurück, dass ich Sorge habe, ob er nicht gleich umkippt. Miles sieht mich ungläubig an, verdreht erst die Augen, dann sich selbst, bevor er die Klasse verlässt, nur um sich wenige Sekunden später wieder auf seinen Stuhl zu setzen. Die anderen sehen mich mit einer Mischung aus Schock und Unglauben an. Augenblicklich wird es wieder sehr unruhig in der Klasse. Alles in allem also eine sehr gute erste Reaktion.
„Das ist jetzt ein wenig überfordernd für euch, das verstehe ich. Wenn ihr irgendwelche Fragen habt-“
Prompt schießt Hugos Finger in die Höhe. „Also, Sie sind keine Frau“, stellt er fest.
„Nein.“
„Und auch kein Mann.“
„Korrekt.“
„Was sind Sie dann?“
„Divers!“
Miles kichert leise. „Haben Sie einen Pe---“ Die Frage verschwindet in seinen Händen, die er vor sein hochrotes Gesicht hält.
„Nein, habe ich nicht“, antworte ich. Für ihn wird dieses Outing wohl mit am schwierigsten sein. Sämtliche Klischees halten für ihn seine Weltordnung zusammen, und jetzt komme ich daher und breche eine Ecke davon auf. Ich habe mit dem Verhalten gerechnet, dass er jetzt peinlich berührt den Kopf in seinem Shirt versteckt. So kann ich ihm gar nicht böse wegen einer fast respektlosen Frage sein.
„Also keine Frau und kein Mann“, wiederholt Hugo. „Sondern divers. Woran merken Sie das denn?“
Endlich machen sich meine Erfahrungen von allen vorigen Outings bezahlt. „Lass mich das mit einer Gegenfrage beantworten: Woher weißt du, dass du ein Junge bist?“
Hugo muss kurz überlegen. „Naja, ich wurde halt so geboren. Und mir wurde gesagt, dass ich ein Junge bin.“
„Und du fühlst dich wohl als Junge?“, hake ich nach.
„Ja.“
„Dann ist es das. Du merkst, dass du ein Junge bist, weil du dich als solcher wohl fühlst. Ich fühle mich wohl, wenn ich divers bin.“ Das scheint er zu verstehen.
„Ändert sich für uns irgendetwas?“, fragt Clara nach einer kurzen Meldung.
„Nein. Ich bin immer noch dieselbe Person. Beziehungsweise, sagt ihr es mir: Vor fünf Monaten habe ich mich zum ersten Mal geoutet. Habe ich mich seitdem großartig verändert?“
Allgemeines Kopfschütteln.
Kevin meldet sich. „Was ist mit der Anrede?“, fragt er. „Bisher haben wir ja immer Frau […] zu Ihnen gesagt – Ist das jetzt anders?“
Ich muss lächeln. „Das Problem ist ein wenig, dass die deutsche Sprache absolut nicht auf das dritte Geschlecht vorbereitet ist. Es gibt keine vernünftigen geschlechtsneutralen Pronomen – also, er oder sie – und eine einheitliche Anrede gibt es auch noch nicht. Dafür werden momentan viele neue Wörter geschaffen. Als Anrede würde ich persönlich Mix bevorzugen; Das ist allerdings nur ein Vorschlag. Keine Ahnung, ob sich das durchsetzen wird.“
„Mix?“, fragt jemand. Niemand scheint das wirklich zu verstehen, weder akustisch noch inhaltlich. Also schreibe ich den ganzen Namen einmal an die Tafel – es sieht fantastisch aus.
„U.M.O.“, meint Kevin plötzlich. „Unbekanntes Menschliches Objekt.“
Ein lautes Lachen erklingt, sowohl von mir, als auch von den anderen Lehrerinnen und einigen Schülern.
Die Stimmung bleibt locker und entspannt. Die Jungs stellen noch weitere interessierte Fragen, die einen mehr, die anderen weniger angebracht. Ich versuche auf jede angemessen zu reagieren. Allmählich merke ich aber, dass das Thema alle anstrengt, also schließe ich mit den Worten: „Ich weiß, dass das ein wenig überfordernd ist, und das ist okay. Wenn ihr irgendwie Redebedarf oder Fragen habt, könnt ihr gerne zu mir kommen, oder auch zu Sara oder Clara. Auf jeden Fall danke ich euch für eure Aufmerksamkeit.“ Damit stehen die Jungs auf und gehen in die fünf-Minuten-Pause, die sie sich dieses Mal wirklich verdient haben.
„Kommst du damit klar, Miles?“, hält Clara noch einmal kurz den Jungen auf, der offensichtlich am wenigsten damit zurecht kam.
„Sicher“, meint er. „Sie ist ja immer noch dieselbe Person.“