Die Unterstützung und Akzeptanz meiner nächsten Familie bedeutet mir sehr viel. Zusammen mit meinen Eltern überlege ich, wie das nächste Vorgehen aussehen soll, gerade, was die weitere Familie anbelangt. Der Geburtstag meines Onkels steht an und abgesehen von seiner Frau und den gemeinsamen Kindern werden auch meine Großeltern und mein Großonkel mit seiner Frau da sein. Das ist im Prinzip die engste Familie, die ich habe, gleich nach meinen Eltern und meiner Schwester. Die Personen, die mich von Geburt an kennen und irgendwie immer da waren. Ich möchte sie nicht außenvor lassen; Es fühlt sich für mich nicht richtig an, ihnen einen so wichtigen Teil meiner Identität vorzuenthalten. Der Geburtstag meines Onkels wäre die perfekte Gelegenheit.
"Lass das mal", meint meine Mutter zu dieser Idee, "Das ist Onkel Richards Tag. Du solltest dich da nicht in den Mittelpunkt schieben."
Das leuchtet mir ein. Es gibt noch mehr Gründe, weshalb ich mich dazu entscheide, mich im einzelnen zu Outen. Zum Beispiel ist es wahrscheinlich sehr verwirrend, wenn jemand nach neunzehn Jahren ankommt und sagt: "Ich habe kein Geschlecht." Die meisten denken wahrscheinlich zunächst, dass ich nichts in der Hose habe (warum auch immer das andere was angeht), oder dass ich psychisch krank bin. Dass ich mir etwas einbilde. Nach Aufmerksamkeit suche. Und, und, und. Es gibt viele solcher Überlegungen und Rückfragen, die allesamt eigentlich haltlose Vorurteile sind, doch zunächst genauso überzeugend klingen wie für ein Kind, dass die Erde flach ist. Es dazu zu überzeugen, dass die Erde rund ist, sich um sich selbst und um die Sonne herum dreht, ist erst mal eine kleine Herausforderung. Bei einem Kind gibt es immerhin den Vorteil, dass es jung ist und wissbegierig und so ziemlich alles glaubt, was man ihm sagt. Bei erwachsenen Menschen ist das nicht so. Ich muss mich also auf eine Menge Fragen und Diskussionen einstellen, wahrscheinlich auch auf Witze und Scherze, die allesamt ziemlich weh tun könnten. Trotzdem muss ich mir das anhören und wichtig nehmen, wenn ich selbst wichtig genommen werden will. Das ist mir von Anfang an klar.
Spoiler: Der Geburtstag meines Onkels ist furchtbar. Ich bin eine Frau an diesem Tag, komme nicht zu Wort und langweile mich. Mir geht es außerdem nicht gut und ich bin schlecht gelaunt, also verlasse ich die Feier mit einer halben Ausrede verfrüht.
In der Woche nach dem Geburtstag kommt Sophie, meine wahrscheinlich beste Freundin, regelmäßig zu uns nach Hause. Sie hat momentan Semesterferien und zu viel Zeit, die sie nicht bei sich daheim verbringen möchte. Also steht sie am Montag gegen acht Uhr Abends mit Keksen unter dem Arm vor der Tür und fragt nach einem Tee. Nur kurze Zeit später sitzen wir gemeinsam am Küchentisch, legen Tarotkarten, sprechen über Zauberei und die Beatles. Irgendwann greife ich nach ihren Händen, halte sie locker in den meinen und sage: "Sophie, ich muss dir mal was wichtiges sagen. Ich bin Nonbinär."
"Aha", antwortet sie allwissend, "was ist das?"
Ich muss kichern. Diese ganze Situation wirkt so vollständig albern auf mich und es fällt mir schwer, die angemessene Ernsthaftigkeit zu bewahren. "Das heißt im Prinzip, dass ich mich mit keiner Geschlechtsrolle identifizieren kann."
"Aha", sagt Sophie. Sie wirkt ein wenig überfordert, überspielt das aber mit ihrer üblichen Leichtigkeit. "Kekse?"
Natürlich nehme ich einen Keks, während sie etwas von Ringo Starr erzählt. Ich hätte gerne weiter darüber gesprochen, hatte erwartet, dass sie länger auf dem Thema sitzen bleibt. Eine Mischung aus Enttäuschung und Dankbarkeit macht sich in mir breit. Sie ist immer noch Sophie, so wie ich noch immer Wiebke bin, oder Hayo, oder beides. Nichts hat sich geändert.
So ähnlich läuft es mit einer anderen Freundin, mit der ich ein paar Tage später skype. Wir witzeln und ziehen uns gegenseitig auf, bis sie fragt: "Äh, was wolltest du mir eigentlich noch sagen?" (Ich hatte ihr zuvor in einer Textnachricht angekündigt, dass es etwas wichtiges zu Erzählen gibt.)
Bis jetzt konnte ich meine Aufregung gut unterdrücken, doch jetzt wummert das Herz wieder in meiner Brust. "Ahja", sage ich nervös, "Ähm, also, und zwar, ich bin Nonbinary."
"Ah", sagt sie fast schon desinteressiert und das Gespräch geht in eine andere Richtung.
Irgendwie habe ich immer, wenn ich diese Worte spreche, das Gefühl, dass sich etwas verschiebt. Ich habe immer das Gefühl, dass die Menschen, denen ich mich offenbare, mich mit anderen Augen sehen. Das ist prinzipiell nicht schlecht, genau genommen mache ich die ganze Sache genau dafür. Aber es ist ungewohnt. Sehr ungewohnt und ich habe Angst, dass durch diese Verschiebung alles ins Wanken gerät.
Wieder beim Abendessen sage ich zu meinen Eltern: "Ich möchte euch gerne dazu einladen, mich Hayo zu nennen." Mein Vater wird das nicht tun, das weiß ich. Ich werde ihn auch nicht dazu drängen, zumindest vorerst nicht. Aber von meiner Mutter und meiner Schwester weiß ich, dass sie es könnten, wenn sie nur wollten. Es ist eine Gewöhnungssache, keine Frage. Ich entscheide mich dazu, dass ich beim Outing direkt auch meinen Namen sage, damit ich nicht immer zwei Gespräche führen muss.