Chronologisch gesehen befinden wir uns jetzt am zweiundzwanzigsten Januar im Jahr 2019. Zu Hause bin ich sehr aufgeregt, weil ich nicht so recht weiß, wie ich das Thema angehen soll, ich weiß nur, dass ich das machen will. Beim Abendessen rutsche ich also nervös auf meinem Stuhl hin und her, bis ich schließlich sage: "Ich muss mal etwas Wichtiges mit euch besprechen." Das klingt furchtbar seriös, fällt mir auf.
"Du willst dich outen", schießt es aus meiner Muttter heraus, die heute Abend besonders gut gelaunt ist. Die ganze Zeit über macht sie schon Witze. Es ist schön, sie so zu sehen, und bekräftigt mich nur noch mehr. Über ihren Schuss ins Schwarze muss ich erst einmal lachen. Wusste sie das wirklich oder hatte sie bloß geraten? Ist auch egal: Auf jeden Fall ist es jetzt leichter, das kommende auszusprechen.
"Ja", schmunzele ich, "will ich tatsächlich. Und zwar identifiziere ich mich als Nonbinary."
"Na endlich", sagt meine Schwester desinteressiert und isst weiter das Ofengemüse. (Oder war es Nasi? Nudelauflauf? Ich weiß es nicht mehr.) Irgendwann einmal muss ich es ihr mal erzählt haben, wahrscheinlich nur in einem Nebensatz, aber wie sie so ist, hat sie es einfach hingenommen.
Meine Eltern hingegen sehen mich mehr oder weniger verwirrt an.
"Was?", fragt mein Vater verdattert. Er kann überhaupt nichts mit dem Begriff anfangen, noch weniger als meine Mutter.
"Das bedeutet, dass ich mich mit keiner Geschlechtsidentität identifizieren kann", versuche ich es noch einmal.
Mein Vater runzelt die Stirn.
Im folgenden entsteht eine rege Diskussion über Identitäten, Gefühle, Sexualität und den Umgang mit anderen. Es ist ein Gespräch auf Augenhöhe, in dem Fragen wie Pronomen geklärt werden - "Ich bleibe bei weiblichen Pronomen. Ich bin daran gewöhnt und das ist einfacher für alle Beteiligten." - oder mit welchem Namen ich angesprochen werden will. Ich antworte auf diese Frage ziemlich wortgenau: "Ich mag den Namen Wiebke sehr, den werde ich auch auf keinen Fall ablegen. Aber ich würde gerne wissen, wie es ist, Hayo genannt zu werden." Das ist genau die Ungenauigkeit, von der ich bereits schrieb, denn in den ein, zwei Wochen danach wurde ich kein einziges Mal "Hayo" gerufen.
Ich erkläre auch, dass ich mich an der Schule, an der ich aktuell mein FSJ mache, weiterhin als Frau ausgeben werde. Ich will die Jugendlichen nicht mit mir überfordern, was ich in einigen Fällen ohnehin schon tue. Mich in der Schule zu Outen - Das ist für mich momentan der Endboss. So weit bin ich noch nicht. Als ich nach dem Essen ins Bett gehe, herrscht eine seltsame Stimmung im Haus. Ich bin sehr heiter, nahezu euphorisch. Irgendetwas will ich in die Welt hinausschreien. Im Endeffekt stelle ich einfach nur die Nonbinary-Flagge in meinen WhatsApp-Status. Sie wird von vielen gesehen, doch nur die wenigsten fragen nach, was das ist oder was sie bedeutet.
Meine Mutter und meine liebe Schwester sagen nichts zu allem. Sie akzeptieren mich einfach, sie denken nicht, dass sich groß etwas ändern wird. Nur mein Vater wirkt sehr verwirrt. "Für mich wirst du immer Wiebke sein", sagt er, "Ich werde dich nicht Hayo nennen." Das tut weh. Für ihn muss das alles sehr seltsam und fremdartig sein. Er versteht nicht, wie ich mich fühle, wahrscheinlich wird er das auch nie. Ich wünsche mir seine Unterstützung und es ist schwierig für mich, diese nicht uneingeschränkt zu bekommen.