Seit meinem letzten Tag an der Förderschule sind bereits knapp zwei Monate vergangen. Eigentlich war der Plan, jetzt mit einem Studium zu begingen, doch aus verschiedenen Gründen war das leider nicht möglich.
Also stehe ich jetzt hier, bei einem Probetag an einer Grundschule, wo ich als Betreuer arbeiten will. Der erste Job, an dem ich kein riesen Trara um meine Geschlechtsidentität machen muss, die erste Stelle, an der ich mich so geben kann, wie ich bin.
Denke ich.
Bedauerlicherweise habe ich meinen Binder verlegt, weswegen für heute ein Herrenshirt, abgeklebte Nippel, ein Hemd und eine gehörige Portion Hoffnung genügen müssen. Allerdings rutsche ich besonders wegen meiner langen Haare und dem weichen Gesicht schnell in die Kategorie "Frau". Besonders, weil die wenigsten von Anfang an Bescheid wissen und sich nicht näher mit meiner Identität beschäftigen. Das ist verständlich, immerhin ist das auch nicht ihr Salat, sondern meiner. Ich muss dafür sorgen, dass ich richtig wahrgenommen werde. Umso ärgerlicher ist es, dass ich meinen Binder nicht da habe... Wobei, würde das überhaupt etwas ändern?
"Die Kinder Siezen uns alle", erklärt die Betreuerin, die ich zum Essen begleite.
Shit. Das habe ich nicht bedacht. "Warum?", frage ich in der Hoffnung, dass bei mir eine Ausnahme gemacht werden könnte.
Die Betreuerin öffnet den noch leeren Essensraum, bevor sie weiter spricht. "Damit die Kinder wissen, dass wir alle auf einer Stufe stehen. Bei Praktikanten, die zwei Wochen oder so da sind, sehen wir darüber hinweg, aber du willst ja ein halbes Jahr bleiben. Das hat ganz einfach den Hintergrund, dass die Kinder nicht das Argument haben sollen, sie müssten auf einen von uns nicht hören."
"Und mich mit meinem Vornamen zu Siezen wäre wieder zu kompliziert, oder?"
Die Betreuerin nickt, und ich frage mich, ob das wirklich komplizierter ist als eine ungewohnte Anrede neben "Herr" und "Frau".
Dann kommt die Situation, in der ich mich zum ersten Mal bei den Kindern vorstellen muss. Irgendwie stammele ich meinen vollen Namen zurecht, ohne Anrede, und niemanden scheint das zu wundern. Ich wage sogar zu bezweifeln, dass irgendjemand meinen Namen verstanden, geschweige denn sich gemerkt hat.
Bei der Förderschule war die ganze Sache mit meinem Outing noch recht frisch. Zunächst wollte ich das alles vor meinen Schülern und Kollegen geheim halten, bis ich dieses Spiel nicht mehr ertrug. Als ich die Sache offen ausgesprochen habe, haben die Schüler das mehr oder weniger gut aufgefasst. Alle mussten sie sich umstellen, und die meisten haben sich auch darum bemüht. Über die ein oder zwei Jungs, die nicht damit umgehen konnten, habe ich hinwegsehen können. Immerhin waren es nur noch wenige Wochen bis zu meinem letzten Tag.
Bei der Ganztagsschule will ich von Anfang an damit offen umgehen, damit sich niemand erst umgewöhnen muss. Das bedeutet, dass ich mir bis zu meinem ersten offiziellen Tag eine vernünftige Anrede einfallen lassen muss, die einfach auszusprechen und einigermaßen naheliegend ist. (Vorschläge?)
Gegen Ende meines Probetages spricht mich noch ein kleines Mädchen an. "Deine Hose sieht voll komisch aus", sagt sie. "Warum trägst du so weite Hosen?" Es lebe die kindliche Ehrlichkeit.
"Ich mag sie", antworte ich wahrheitsgemäß. "Sie ist so luftig und hat viele große Taschen. Glaub mir, wenn du so eine Hose tragen würdest, wolltest du nie mehr etwas anderes tragen!"
"Ich hatte mal so eine Hose. Ich habe sie weggeworfen."
Das brüskiert mich. "Du wirfst Kleidung weg? Spende sie doch lieber oder verschenke sie!" Wiederverwertung ist immerhin wichtig, subjektive Hässlichkeit hin oder her.
"Manchmal zerschnibbel ich alte Sachen von mir auch und mache was neues draus", ereifert das Mädchen sich und zupft an meinem Hemd. "Das hier könnte ich toll benutzen."
Ich trete einen Schritt zurück. "Nein", erwidere ich gespielt brüskiert. "Das ist ein gutes Hemd. Das könnte ich auf einer Hochzeit tragen!"
Das Mädchen sieht mich mit schief gelegtem Kopf an. "Aber dann siehst du doch aus wie ein Junge!"
"Das will ich ja auch!", grinse ich.
"Aber du bist doch ein Mädchen", korrigiert mich das Mädchen und schüttelt seine blonden Zöpfe.
"Nein", antworte ich.
Das Mädchen zieht irritiert eine Freundin hinzu. "Das ist doch ein Mädchen, oder?" Ihre Freundin nickt.
"Bin ich aber nicht", versuche ich mich zu erklären. "Aber ich bin auch kein Junge. Ich bin irgendwo dazwischen."
"Das geht nicht", sagt das Mädchen und sieht mich an, als sei ich ein Alien.
"Doch, sicher", meine ich und würde gerne die Erklärung vertiefen, doch da wird sie schon abgeholt.
Vielleicht ist es doch nicht ganz so einfach wie ich dachte, das ganze in einer Grundschule zu etablieren.